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Die Farbe des Geldes. Dokumentarfilme zur New Economy.

Bildersuche im Reich der Ökonomie
Vortrag von Klaus Kreimeier

Dokumentation der dfi-Tagung vom 26./27. Januar 2001

pdf Vortrag von Klaus Kreimeier

Bild 1: DEUTSCHE BÖRSE

Wenn wir uns darauf verständigen können, dass Bilder notwendige Konstruktionen sind, mit deren Hilfe wir miteinander über die Beschaffenheit der Welt kommunizieren, dann wäre es erstaunlich, wenn es keine Bild-Konstruktionen gäbe, die uns helfen, das Reich der Ökonomie oder die Börse zu verstehen - oder genauer: ihrer ansichtig zu werden.

Die Homepage der Deutschen Börse verfügt über eine ”Parkettkamera”, mit deren Hilfe der Netzbesucher zwischen 9 und 20 Uhr das Börsengeschehen beobachten kann. Das wird ihm jedenfalls versprochen. Doch wenn er die DAX-LIVE-Börsenkamera anklickt, kann es
ihm geschehen wie mir: er wird aus dem Saal gewiesen, bevor er ihn betreten hat. ”Forbidden!” lautet die barsche Auskunft. ”You don't have permission to access or to see the dax on this server”.

Wie also kann man den Dax SEHEN ? Kann man überhaupt den Dax oder den Dow Jones Index oder den Nemax oder die amerikanische Technologiebörse Nasdaq sehen? Und wie könnten die Bilder aussehen, die wir uns von den Realitäten des neuen weltweiten Wirtschaftens machen?

Aufbau:
1. Kleiner Exkurs über die Bildsprache der Tauschgesellschaften
2. Anmerkungen zur Theorie des Bildes
3. Skeptische Notizen zum Dokumentarfilm
4. Ein Blick zurück in die Geschichte der Fotografie
5. Bildbetrachtung: Ein Foto der Wallstreet
6. Skeptische Notizen zum Dokumentarfilm, zweiter Teil
7. Analyse einer Dokumentarfilm-Sequenz (em-tv)

1. Kleiner Exkurs über die Bildsprache der Tauschgesellschaften

Ökonomische Prozesse sind Spielanordnungen, die über ihre eigenen Zeichensysteme verfügen. Da Ökonomie auf Kommunikation basiert, sind, wie in allen anderen Kommunikationen, Codes erforderlich. Wo gehandelt wird, wird bereits in Bildern, in Verbildlichungen gesprochen. Wenn Naturalien getauscht werden, sind die Gegenstände selbst zugleich Bilder oder Codes des Tauschvorgangs, der ja darin besteht, dass Äquivalente getauscht werden. In der Geldwirtschaft drücken Scheine und Münzen eben dieses Äquivalent aus und ermöglichen eine Kommunikation, die Warenverkehr, Absatz und Umsatz heißt. Der Geldschein ist ein Bild und zugleich eine hochkomplexe Abstraktion, die erst auf einer bestimmten Stufe der Zivilisation möglich, dann aber auch notwendig wurde.

4000 v. Chr.wurden in China noch Perlen und kleine Nachbildungen von Geräten als Zahlungsmittel benutzt. 600 v. Chr. tauchten in Kleinasien die frühesten bekannten Edelmetallmünzen auf. Dreihundert Jahre später ließ Alexander der Große erstmals in bedeutendem Umfang Münzen prägen. Münzen simulieren gleichsam das Äquivalent; Grundlage ist die Übereinkunft, dass Gold alle Güter „aufwiegen“ kann. Zugleich formulieren die Imperatorenköpfe auf den Münzen das Machtverhältnis: politische Herrschaft und Münzherrschaft sind kongruent.

1661 druckt die Schwedische Bank wegen Mangels an Münzen das erste Papiergeld Europas. Das ist auch eine Wendung von der Kodifizierung der Verbildlichung zur Schriftkultur; dem Papier muss aufgedruckt werden, für welches Äquivalent es zu stehen hat. Banknoten sind Urkunden, beglaubigt durch die in Kupfer gestochenen Unterschriften derer, die in einem Staat die Finanzhoheit innehaben.

Gold- und Papierwährung kämpfen in den folgenden beiden Jahrhunderten gegeneinander, als führten zwei unterschiedliche Kulturen, zwei unterschiedliche Symbolsysteme Krieg. Seit 1968 haben wir den Euroscheck, bald wird die Euroscheck-Karte eingeführt. Jede Scheckkarte enthält einen kleinen Computer, der uns anschließt ans globale Netz, an die Datenautobahn.

Schon 1409 öffnete die erste Börse Europas in Brüssel; ein frühes Signal für die höhere Konzentration und eine neue Beschleunigung im Kapitalverkehr. Auf der Börse aber werden die Zahlungsmittel, die selbst Symbole darstellen und eine Kommunikationsform der Tauschgesellschaft darstellen, unsichtbar. Das Geld, verstanden als Bild-System, wird virtuell; es ist nicht mehr greifbar, es ist auch nicht mehr sichtbar.

Unsichtbar und dennoch „abbildbar“ ist die Bewegung des Kapitals, die ihre eigenen Konnotationsysteme findet – etwa in der Aktienkurve, die darum, als Bildzeichen, so populär ist, weil sie den Fieberkurven der Mediziner gleicht. Die Bilder werden zu Diagrammen. Aktien- und Fieberkurven drücken Hausse und Baisse aus, die Schicksale, die unser Vermögen und unseren Körper befallen. Aber sie sind ein noch stärkeres Bildzeichen für unsere Erregung, unsere Erwartungen und Befürchtungen, die wir am Krankenbett oder als Aktionäre empfinden.

Noch einmal: Wie sehen die Bilder aus, die wir uns von uns von der „New Economy“ machen könnten?

2. Anmerkungen zur Theorie des Bildes

Um zu prüfen, ob diese Frage überhaupt einen Sinn hat, will ich zunächst versuchen, meine Eingangsthese zu präzisieren. Mit Hilfe von Bildern kommunizieren wir nicht über die Beschaffenheit der Welt, sondern wir vergewissern uns der Tätigkeit unserer Sinne. Wenn
wir ein Bild betrachten, vollbringen wir eine Konstruktionsleistung, die darin besteht, dass wir eine Relation zwischen der Arbeit unserer Sinnesorgane und der Struktur der Wirklichkeit herstellen.

Wenn wir ein Bild betrachten, sehen wir - und zugleich wissen wir, dass wir sehen. Ein Bild ist Gegenstand unserer Wahrnehmung - und zugleich Instrument unserer Reflexion. Der Reflexion liegt eine unbewiesene und unbeweisbare Annahme zugrunde: dass wir in der
Lage seien, mit Hilfe unserer Sinne die Welt so wahrzunehmen, "wie sie ist". Wir benötigen dieses Axiom, um uns mit der Natur auseinanderzusetzen und als soziale Wesen in Aktion zu treten.

Wenn wir sehen und gleichzeitig wissen, dass wir sehen, konstruieren wir uns also als mit Sinnen begabte und sinnlich wahrnehmende Wesen, die in der Lage sind, zutreffende Sinneseindrücke aufzunehmen und sinnvoll zu handeln. Seit den frühen Höhlenzeichnungen haben Bilder die Funktion, diese Selbst-Konstruktion zu gewährleisten. Im Betrachten von Bildern erschaffen wir uns selbst.

Man sollte annehmen, dass die Technisierung der Bilder seit Erfindung der Fotografie dazu beigetragen hat, unsere Selbst-Konstruktionen zu festigen und sie auf ein stabileres Fundament zu stellen. Aber das Gegenteil ist der Fall. Die Fotografie, der Film, die
elektromagnetische Aufzeichnung, alles "Dokumentarische" hat den Prozess, in dem wir uns selbst als wahrnehmende Subjekte erschaffen, nicht optimiert, sondern ihn eher untergraben. Je genauer die Bilder das, was wir für Wirklichkeit halten, abzubilden scheinen, desto größer werden unsere Zweifel – und desto bohrender unsere Fragen nach der Konsistenz dessen, was wir sehen. Und desto vergrübelter die Frage, die schon Plato und dann die frühen Kirchenväter beschäftigte: Was ist das eigentlich – ein Bild?

Die technischen Bilder haben unsere Aporien vertieft. Unsere Wahrnehmungsinstrumente sind komplexer geworden, aber auch das Bewusstsein der Differenz hat zugenommen: Wir nähern uns der Einsicht, dass der Abstand zwischen der Tätigkeit unserer Sinnesorgane und der Struktur der Wirklichkeit unendlich ist. Ohne zu übertreiben, können wir daher sagen: mit Hilfe der technischen Medien konstruieren wir uns als Subjekte in einer nicht zugänglichen, letztlich "unsichtbaren" Welt.

Um sie bewohnbar zu machen und uns in ihr orientieren zu können, haben wir die Welt "kodifiziert", wie Vilém Flusser sagt. Und er liefert die Definition des Codes gleich nach: "Ein Code ist ein System aus Symbolen. Sein Zweck ist, Kommunikation zwischen Menschen zu ermöglichen. (...) Menschen müssen sich miteinander durch Codes verständigen, weil sie den unmittelbaren Kontakt mit der Bedeutung der Symbole verloren haben. Der Mensch ist ein 'verfremdetes' Tier, muss Symbole schaffen und sie in Codes ordnen, will er den Abgrund zwischen sich und der 'Welt' zu überbrücken versuchen."

Mit Blick auf die Jagdszenen der Höhlenmalerei spricht Flusser von jenem Potential an Imagination, das erforderlich ist, um die "Welt" mit ihren "vierdimensionalen Raum-Zeit- Sachlagen" auf zweidimensionale Szenen zu reduzieren und sie so zu kodifizieren. Umgekehrt ist Sachverstand - sozusagen: Medienkompetenz - erforderlich, um die so entstandenen Szenarien zu entziffern und sie als Verschlüsselungen von "Sachlagen" zu lesen. Flusser vergleicht sie mit "Landkarten" und weist damit darauf hin, dass Bilder - verstanden als "analoge" Repräsentationen im Sinne des fotografischen "Realismus" - im Grunde nur einen Sonderfall im System unserer Kodifizierungen darstellen.

Vor der Erfindung des Buchdrucks waren Bilder die dominierenden Kommunikationsmittel, die allgemein gebräuchlichen Mittel zur Kodifizierung der Welt. Fünfhundert Jahre dominierte der Buchdruck und mit ihm die Schrift die Kommunikation und die Kodifizierungsmuster. Und erst seit etwa 150 Jahren sprechen wir vom Bild emphatisch im Sinne des fotografischen Abbilds, dem wir "Naturtreue", d.h. eine Strukturanalogie zwischen dem Abgebildeten und dem Reflex auf unserer Netzhaut zuschreiben.

Heute sind es wieder Bilder, die uns "programmieren", wie Flusser sagt: In diesem Sinne - allerdings nur in diesem - könne "unsere Lage als Rückkehr ins Mittelalter gedeutet werden, sozusagen als ein retour avant la lettre." Der wesentliche Unterschied: "Vor-moderne Bilder sind Produkte des Handwerks ('Kunstwerke'), nach-moderne sind Produkte der Technik." Darin versteckt sich die These, dass die technischen Bilder, über die wir seit 150 Jahren verfügen, mit den Bildern aller früheren Epochen kaum etwas gemeinsam haben. Die technischen Bilder sind definitiv Kodifizierungsmuster nach dem Zeitalter der Schrift.

Dabei ist das Zeitalter der Schrift noch gar nicht abgeschlossen. Die Logik der Schrift hat das historische Bewusstsein und das wissenschaftliche Denken, mit ihm auch die Technik hervorgebracht. Das Problem besteht darin, dass wir heute mit den Kategorien des
historischen und wissenschaftlichen Denkens über "neue" Bilder, über technische Bilder sprechen, die aus der prozessualen Logik der Schrift hervorgegangen sind, sich aber gleichzeitig vom Zeitalter der Schrift abzusetzen beginnen.

Die Schrift, wie sie sich in Mesopotamien entwickelt hat, nennt Flusser ein "Aufrollen des Bildes in Linien", einen Schritt "hinaus aus dem Bild und hinein in ein gähnendes Nichts", einen Schritt in die Abstraktion. Texte sind, so verstanden, geschriebene Bilder - sie sind "um einen Schritt weiter vom konkreten Erlebnis entfernt als Bilder" (67); sie sind sozusagen Landkarten höherer Ordnung, weil sie, anders als Bilder, nicht synchron, sondern dia-chron organisiert sind und linear entziffert werden müssen.

Der Sieg der Texte über die alten Bilder war, so Flusser, der Sieg der Wissenschaft über die Magie. Auf dem Höhepunkt der Schrift- und Textkultur, im 19. Jahrhundert, traten "neue" Bilder, mechanisch-technisch erzeugte Bilder auf: die Fotografie, bald danach das bewegte Bild des Films und wieder etwas später das elektromagnetisch aufgezeichnete und in "Echtzeit" gesendete Bild des Fernsehens und der Videokamera, mit deren Hilfe wir uns heute als Privatleute der Tätigkeit unserer Sinne zu vergewissern suchen und uns als wahrnehmende Subjekte konstruieren. Seit dem späten 20. Jahrhundert haben wir es nun mit "ganz neuen" Bildern zu tun, mit den programmierten Bildern aus dem Rechner, die uns umzingeln, während wir uns eingestehen müssen, dass wir ihre Bedeutung noch gar nicht kennen.

Konkret und angewandt auf unser Thema heißt das: Wenn wir uns auf eine "Bildersuche im Reich der Ökonomie" begeben, halten wir, wie sollte es anders sein, zunächst nach Dokumentarfilmen Ausschau. Dokumentarfilme verbürgen Solidität und Seriosität. Sie gehören dem Bereich der technischen Bilder an, mit denen wir seit etwa 150 Jahren vertrauten Umgang pflegen und die wir zu entziffern gelernt haben. Dokumentarfilme - das haben wir in den letzten einhundert Jahren gelernt - basieren auf einem Versprechen und einem ungeschriebenen Vertrag.

3. Skeptische Notizen zum Dokumentarfilm

Das Versprechen lautet: die Bilder eines Dokumentarfilms stellen eine maximale Annäherung zwischen der Aufnahmetechnik und der prozesshaften Wahrnehmungstechnik her, mit deren Hilfe wir uns als handelnde Subjekte in der Welt konstruieren - oder, skeptischer
ausgerückt: mit deren Hilfe wir den "Abgrund zwischen uns und der Welt" überbrücken. Auf diesem Versprechen wiederum basiert der ungeschriebene Vertrag zwischen dem Dokumentarfilmproduzenten und seinem Zuschauer. Der Vertrag hat zum Inhalt, die wahrgenommenen Bilder als wahr zu nehmen, als Abbilder eines Sachverhalts und als Belegstücke einer ungeprüft vorausgesetzten, ontologisch nicht in Frage gestellten "Wirklichkeit". Der Vertrag zwischen dem Dokumentarfilmproduzenten und seinem Zuschauer basiert auf Vertrauen.

Gäbe es dieses Versprechen und diesen Vertrag zwischen den Beteiligten nicht, würde der Dokumentarfilm nicht funktionieren. Er funktioniert somit innerhalb einer von allen Beteiligten akzeptierten Konstruktion, in deren Rahmen man ein gemeinsames Kodifizierungsmuster vereinbart hat. Die Konstruktion hat ihre Spielregeln; sie bricht zusammen, wenn die Regeln von den Mitspielern nicht eingehalten werden - wenn z.B. der Zuschauer von der Darstellung einer gesellschaftlichen Konfliktsituation in einem Dokumentarfilm eine märchenhafte Auflösung erwartet. Märchenhafte Lösungen sind durchaus ein Code, mit dem wir uns über Wirklichkeit verständigen und den Abgrund zwischen uns und der Welt überbrücken. Aber sie gehören nicht zu den Codes, über die
der Dokumentarfilm verfügt.

Folgen wir Flusser, wurzelt allerdings sowohl das Versprechen als auch der ungeschriebene Vertrag auf einem Missverständnis, auf einer Unkenntnis der technischen Bilder. Er schreibt: "Eine Fotografie ist nicht das Bild eines Sachverhaltes, wie es das traditionelle Abbild ist, sondern sie ist das Bild einer Reihe von Begriffen, welche der Fotograf in bezug auf eine Szene hat, die einen Sachverhalt bedeutet." (70)

Zwischen das technische Bild und den Sachverhalt schiebt sich also der Begriff - eine Errungenschaft der Schriftkultur. In diesem Sinne sind die technischen Bilder - also auch die Bilder eines Dokumentarfilms - mit allem Nachdruck Kodifizierungsmuster nach dem Zeitalter der Schrift zu nennen: ihre Grundlage sind historisches Bewusstsein und wissenschaftliches Denken, und ihre Funktionsweise kommt nicht ohne den Begriff aus, der gleichsam den angenommenen "unverstellten" Blick auf einen Sachverhalt verfremdet. Wir sehen nicht den Sachverhalt, wir sehen seinen Begriff. Das Bild eines Arbeiters an einer Maschine ist nicht das Bild eines Sachverhalts, sondern das Bild eines Begriffs, den der Fotograf oder der Filmmacher von dieser Szene hat, und das Produkt einer Reihe komplizierter Vorkehrungen, die er trifft, um seinen Begriff "in Szene” zu setzen.

4. Ein Blick zurück in die Geschichte der Fotografie

Es scheint, als habe es in den frühesten Tagen der Fotografiegeschichte noch eine Ahnung vom Primat der Schriftkultur gegeben. Das älteste Foto ist ein Bild der Schrift – das hat Hubertus von Amelunxen herausgefunden, der ein wunderbares Buch über William Henry Fox Talbot gestaltet hat, den ersten Fotografen, der von seinen Camera obscura- Aufnahmen Positivabzüge hergestellt hat - im Gegensatz zur Daguerreotypie, bei der jedes Bild ein Unikat war. Das älteste Foto Talbots zeigt einen handschriftlichen Vermerk des Fotografen.

Ein Selbst-Porträt, in dem sich der Fotograf über seine Handschrift, d.h. über einen anderen, älteren Code definiert.

Bild 2: TALBOT-FOTO

Auch das älteste noch vorhandene Negativ stammt von William Henry Fox Talbot, es wurde im August 1835 hergestellt. Hubertus von Amelunxen schreibt dazu in seinem Talbot-Buch:

”Es ist eine Ansicht des Erkerfensters in der Südgalerie von Lacock Abbey. Das ungefähr 1,6 mal 1,6 cm große Bild hat auf dem unbelichteten Papier links die Aufschrift: ”Gitterfenster (mit der Camera obscura) August 1835 - Sofort nach Anfertigung konnten die Glasquadrate, ungefähr 200 an der Zahl, unter Zuhilfenahme eines Vergrößerungsglases gezählt werden.”

Die Schrift muss somit beglaubigen, was der Betrachter mit unbewaffnetem Auge nicht sehen kann. Die Schrift, die sich aus den alten Bildern entwickelt hat, die (wie Flusser sagt) das Bild in Linien ”aufgerollt” hat, um zur Schrift zu werden – diese Schrift dirigiert den Betrachter beim Betrachten des Bildes, und sie bestimmt die Politik des Bildes. Dies gilt auch in einem strikt politischen Sinn, wenn wir an die Bedeutung von Bild-Legenden denken, denen die politische Definition dessen, was auf dem Bild zu sehen ist, obliegt. Wäre dem nicht so, wäre um die Bildlegenden etwa der Wehrmachtsausstellung nicht einso erbitterter Streit entbrannt.

Aber nicht nur als Legende, auch als Bildobjekt behält die Schrift, dieser aus dem Bild abstrahierte Code, die alte Faszination. Noch als der Naturwissenschaftler und Politiker Dominique François Arago am 5. Juli 1839 in seinem Bericht vor der Pariser Academie des Sciences den Daguerreotyp vorstellte und den Ankauf der neuen Erfindung durch den Staat empfahl, feierte er mit überschwenglichen Worten die Fähigkeit der Fotografie, nicht etwa ”Wirklichkeit”, sondern kodifizierte Wirklichkeit, also Symbolsysteme abzubilden. Gleich zu Beginn seiner berühmten Rede führte Arago folgendes aus:

”Nachdem Sie mehrere Bilder gesehen haben, wird wohl jeder daran denken, welch ungeheuren Nutzen die ägyptische Expedition aus einem so genauen und so schnellen Reproduktionsmittel hätte ziehen können; jedem wird die Idee einleuchten, dass die Kenntnis des fotografischen Verfahrens im Jahre 1798 uns eine große Zahl der geheimnisvollen Tafeln überliefert hätte, welche die Habgier der Araber oder der Vandalismus gewisser Reisender für immer der gelehrten Welt entzogen haben. Um die Millionen und Aber-Millionen Hieroglyphen zu kopieren, die auch nur die Außenseiten der Denkmäler von Theben, Memphis, Karnak usw. bedecken, bedarf es Dutzender von Jahren und einer Legion von Zeichnern. Mit dem Daguerreotyp könnte ein Mann diese Aufgabe bewältigen. Man rüste das ägyptische Institut mit zwei oder drei Apparaten Daguerres aus - und auf den Tafeln des berühmten Reisewerks, das die Ergebnisse unserer unvergesslichen Expedition sammelt, werden im großen Ausmaß wirkliche Hieroglyphen die fiktiven und konventionellen Zeichen ersetzen. Diese Zeichnungen werden an Detailtreue und Lokalkolorit die Werke der größten Maler übertreffen. Und da die fotografischen Bilder nach den Regeln der Geometrie entstehen, erlauben sie, dass man mit Hilfe einer gegebenen Größe die genauen Abmessungen der höchsten und unzugänglichsten Gebäudeteile rekonstruieren kann.”

Die Fotografie steht hier also zum einen als Reproduktionsmedium für Hieroglyphen; ihr wird die Last einer Jahrtausende alten Schriftkultur aufgebürdet. Zum andern fungiert sie als Rekonstruktionsmedium der geometrischen Regeln, der Perspektive: das
Wahrnehmungsdispositiv, mit dessen Hilfe wir räumliche Wirklichkeit konstruieren, soll von der Fotografie beglaubigt werden. In dieser sehr frühen Phase – von der Walter Benjamin ja gesagt hat, dass sie vor aller Kommerzialisierung das Wesen und die Potenzen des
neuen Mediums am reinsten zum Ausdruck gebracht habe – zeigt sich die Fotografie, das technische Bild, im Bann der Schrift, des begrifflichen Denkens und der neuzeitlichen Wissenschaft, die die Geometrie, das perspektivische Sehen und die Technik hervorgebracht hat. Es geht, im ganz physischen Sinne, um die Abbildung von Begriffen, von Codierungsmustern, also von Abstraktionsleistungen.

Bild 3: WALLSTREET

5. Bildbetrachtung: Ein Foto der Wallstreet

Das Foto einer Börse ist nicht das Abbild des Börsengeschehens, sondern das Bild seines Begriffs. Diese These lässt entfernt an Brechts berühmtes Diktum denken, das Foto der AEG oder der Krupp-Werke ergebe ”beinahe nichts über diese Institute”; die ”eigentliche Realität” sei ”in die Funktionale gerutscht”. Aber Brecht verrät mit seiner These nur, dass er über einen spezifischen Begriff der Realität verfügt, den er in einem Foto der AEG in der Tat vergeblich sucht. Sein Begriff heißt ”Ausbeutung” oder ”die Verdinglichung der menschlichen Beziehungen” – und er findet diese Begriffe in der Fotografie nicht wieder: Einfache Wiedergabe der Realität, dies ist seine Schlussfolgerung, sage über die Realität nichts aus.

Aber keine Fotografie ist eine ”einfache Wiedergabe der Realität”. Auf einem AEG-Foto von 1930 schieben sich zwischen Realität und Wahrnehmung die Begriffe des Fotografen und der Bildbetrachter – Begriffe wie ”modernes Bauen”, ”Industrie” oder gar: ”Elektrizität”. Abstraktionen somit, die der Fotograf in Szene setzt, indem er eine Reihe komplexer technischer Vorkehrungen trifft.

So verstanden, ist ein Foto der Wallstreet nicht das Abbild einer Straße in South Manhattan. Das Straßenbild, das wir sehen, sagt uns vielmehr: ich bin die amerikanische Börse – ebenso wie wir den Begriff WALLSTREET nicht als Straßennamen interpretieren, sondern als Abstraktion, als Synonym für Börse lesen. Für die Konstruktion des Begriffs Börse bietet die fotografische Technik technische Parameter an, die längst semantisch codiert sind: eine spezifische Kameraperspektive, die Effekte des Filters, die Beleuchtung der Szene, die Möglichkeiten der nachträglichen Bildbearbeitung, mit der ich vordergründig das Abbild einer urbanen Topographie, ganz gezielt jedoch den Begriff ”Börse” bearbeiten und ihm Konnotationen hinzufügen kann: Hausse und Baisse, Aufschwung oder Depression, Vertrauen auf die Stabilität der Aktienkurse oder Entsetzen über deren Verfall. Heute hat sich das Fernsehen der Verbreitung kodifizierter, zu Begriffenen geronnener Wirklichkeit verschrieben: Wir erkennen ein Foto der Wallstreet wieder, weil wir es aus dem Fernsehen kennen und als visualisierten Begriff zu lesen gelernt haben.

Es gibt Zeichensysteme, die uns das Innere der Wallstreet, das Funktionieren der Finanzwelt verbildlichen wollen.

Bild 4: Wallstreet on-line

Zu diesem Zeichensystem gehört noch etwas anderes, das ich nicht zeigen kann, weil wir nicht „on-line“ sind: das Geflicker und Geflacker der Werbung, der sog. „Banner“ auf einer solchen Internet-Seite. Auf den ersten Blick bewegen wir uns in einem Feld der Schriftkultur: es dominieren Zahlen und Buchstaben. Sie bilden einen Teppich, dem eine Struktur eingeschrieben ist - eine Struktur, die dechiffriert werden muss, bevor der Bildbetracher, der heute „user“ genannt wird, dieses Zeichensystem nutzen kann. On-line aber bedeutet: Leben im Hypertext. Wir bewegen uns hier auf der Startseite einer Reise, die - ihren technischen Möglichkeiten nach - uns den tendenziell unendlichen Kosmos des Datenuniversums, genannt „word wide web“, anbietet. Ich will nur so viel andeuten, dass es hier nicht mehr um die alte Konstellation Bild oder Schrift (Bild gegen Schrift) geht. Es gibt etwas neues: den Text im Zeitalter seiner Gestalt als multimedialer Hypertext, in dem die alten Medien aufbewahrt - und zugleich verschwunden sind. Sie sind noch da, die Bilder und Schriftzeichen, Filme und Töne, aber sie haben ihre Substanz aufgegeben und an ein neue Struktur delegiert.

Können wir den Dax sehen? – noch immer drängt diese Frage nach Beantwortung. Der Deutsche Aktien-Index ist eine Konstruktion, ein hochkomplexes Spiel. Die Homepage der Deutschen Börse gaukelt vor, wir könnten mit Hilfe ihrer ”Parkettkamera” dieses Spiel ”live” auf dem Bildschirm unseres Computers beobachten. Sie suggeriert uns, das Börsengeschehen sei eine Narration, eine Geschichte, die sich in Bildern erzählen lässt.

Damit schlüpft das Internet ins Bewusstsein und ins Kostüm des Dokumentarfilmers – der Service, den das Netz uns anbietet, heißt ”teilnehmende Beobachtung”. Es ist ohne weiteres denkbar, dass der Webmaster, der die Homepage der Deutschen Börse eingerichtet hat, die Filme von Klaus Wildenhahn oder gar von Leacock kennt und sich mit den Theorien des ”direct cinema” beschäftigt hat. Ja, es ist nicht auszuschließen, dass dieser Webmaster vor langer Zeit einen Text von Alexander Kluge in der Hand gehalten und womöglich gelesen hat. Ich vermute allerdings, er hat ihn ziemlich schnell wieder vergessen.

6. Skeptische Notizen zum Dokumentarfilm, zweiter Teil

Alexander Kluge, ein großer Liebhaber und ebenso gründlicher Skeptiker des dokumentarischen Films, schrieb 1975 in ”Gelegenheitsarbeit einer Sklavin”:

Ein Dokumentarfilm wird mit drei "Kameras" gefilmt: der Kamera im technischen Sinn (1), dem Kopf des Filmemachers (2), dem Gattungskopf des Dokumentarfilm- Genres, fundiert aus der Zuschauererwartung, die sich auf Dokumentarfilm richtet (3). Man kann deshalb nicht einfach sagen, dass der Dokumentarfilm Tatsachen abbildet. Er fotografiert einzelne Tatsachen und montiert daraus nach drei, z.T. gegeneinanderlaufenden Schematismen einen Tatsachenzusammenhang. Alle übrigen möglichen Tatsachen und Tatsachenzusammenhänge werden ausgegrenzt. Der naive Umgang mit Dokumentation ist deshalb eine einzigartige Gelegenheit, Märchen zu erzählen. Von sich aus ist insofern Dokumentarfilm nicht realistischer als Spielfilm.

Erinnern wir uns noch einmal an Vilém Flusser: "Ein Code ist ein System aus Symbolen. Sein Zweck ist, Kommunikation zwischen Menschen zu ermöglichen. (...) Menschen müssen sich miteinander durch Codes verständigen, weil sie den unmittelbaren Kontakt mit
der Bedeutung der Symbole verloren haben.” Kluges Dokumentarfilm-Skepsis lässt sich unschwer an diese Überlegung Flussers ankoppeln. Jeder weiß es: auch die Dokumentarfilmkamera ist ein Instrument der Kodifizierung. Sie reduziert, wie bereits die Höhlenmalerei, "vierdimensionale Raum-Zeit-Sachlagen" auf zweidimensionale Szenen – darin besteht ihre Kodifizierungsleistung, die nichts anderes als eine Abstraktionsleistung ist. Wäre die Kamera ihrer reinen Technizität überlassen, würde sie ausschließlich technisch funktionieren – d.h. sie würde sich auf die technische Reduktion der Vierdimensionalität auf zweidimensionale Abstraktionen beschränken, oder, populär formuliert: sie würde wiedergeben, was sie ”sieht”.

Aber die Kamera ”im technischen Sinn” ist nicht sich selbst oder ihrer reinen Technizität überlassen. Es gibt eine zweite Kamera: den Kopf des Filmemachers. Der Kopf des Filmemachers will eine Kommunikation mit anderen Köpfen herstellen, d.h. er will sich mit ihnen durch Codes verständigen. Er will über die Sachlage vor seiner Kamera etwas aussagen, aber die Sachlage hat sich in seinem Kopf, in dieser zweiten Kamera, längst zu Begriffen verdichtet.

Flusser sagt: "Eine Fotografie ist nicht das Bild eines Sachverhaltes, wie es das traditionelle Abbild ist, sondern sie ist das Bild einer Reihe von Begriffen, welche der Fotograf in bezug auf eine Szene hat, die einen Sachverhalt bedeutet." Kluge sagt: ”Man kann deshalb nicht einfach sagen, dass der Dokumentarfilm Tatsachen abbildet.” Hier begegnen sich zwei skeptische Haltungen – beide umschreiben eine komplexe Anordnung, in der Missverständnisse, Nicht-Verstehen, auch die Lüge (das Märchenerzählen) nicht nur möglich, sondern durchaus üblich sind. Der Webmaster der Börsen-Homepage will uns ein Märchen erzählen – und er bedient sich, unter Bedingungen der digitalen Technik und der Interaktivität, des dokumentarischen Instrumentariums.

Die Anordnung wird dadurch nicht einfacher, dass sich eine dritte Kamera hinzugesellt: der ”Gattungskopf des Dokumentarfilm-Genres”, fundiert auf der Erwartung des Zuschauers, der mit dem Dokumentarfilmer einen ungeschriebenen Vertrag abgeschlossen hat und vertrauensvoll auf die Leinwand oder auf den Bildschirm blickt: Er meint ja zu wissen, was ein Dokumentarfilm ist und was er von ihm erwarten darf. Er meint das zu wissen, weil er andere Dokumentarfilme gesehen hat. Er hat einen Genre-Begriff ”avant la lettre”, psychologisch könnte man sagen: er hat das Genre ”internalisiert”. Das Genre wurde von den Erwartungen des Publikums geformt – ebenso wie es diese Erwartungen lenkt. Der Zuschauer, der sich einen Dokumentarfilm ansieht, ist also nicht zuletzt einem Schema konfrontiert, das sich historisch aus Zuschauererwartungen herauskristallisiert und seine Muster entwickelt hat.

Das ist eine ziemlich verzwickte, im Grunde genommen aussichtslose Lage. Der Filmemacher ”montiert nach drei, z.T. gegeneinanderlaufenden Schematismen einen Tatsachenzusammenhang” – so drückt es Kluge aus. Die Schemata, die von den drei
Kameras geliefert werden, sind nicht kongruent – ja, sie sind womöglich nicht einmal kompatibel. Sie laufen ”gegeneinander”. Jeder kritische und selbstkritische Dokumentarfilmproduzent kennt dieses Dilemma aus seiner eigenen Praxis: Über die Bilder der technischen Kamera stülpt sich der Begriff, auch die Voreingenommenheit der Kamera im Kopf. Die Kopf-Kamera wiederum muss sich an der Gattungs-Kamera orientieren, damit ein Dokumentarfilm zustande kommt. Ein Produkt, das Kommunikation ermöglichen soll – aber nach Gesetzen, die andere festlegen: Geldgeber z.B., die Konkurrenz, die Fernsehanstalten, auch die Erwartungen des Publikums.

Filmausschnitt „em-tv“

7. Analyse einer Dokumentarfilm-Sequenz (em-tv)

Wie ist diese Filmsequenz gebaut – und was erzählt sie uns? Handelt es sich um Dokumentarfilm-Bilder – und wenn ja, mit welcher der drei Kameras wurden sie gedreht?

Die Sequenz beginnt mit Bildern wie aus einem Werbespot: eine rasante Autofahrt, Mutter und Sohn fahren zum Pferderennen. Die Mutter denkt und lebt schnell, das erfahren wir aus dem Kommentar, und sie will schnell ans große Geld. Das funktioniert. In der folgenden Totale stehen wir in der großen Halle des Stadions; im Profil sehen wir Männer, deren Köpfe gespannt nach oben gerichtet sind, auf eine Anzeigentafel, einen Bildschirm – auf etwas, das wir als Zuschauer nicht sehen.

Die nächste Szene könnte aus einem Spielfilm stammen: wir sehen das Gesicht der Mutter, aus starker Untersicht, das Gesicht ist gespannt auf ein Ereignis außerhalb des Bildraums gerichtet; wir hören ihre anfeuernden Rufe. Im Gegenschuß dann Mutter und Sohn von hinten, dann im Profil, im Hintergrund der Renn-Parcours – die Spannung löst sich, das Pferd, auf das die Mutter gesetzt hat, hat gewonnen.

Dann kommt ein ganz neues Element: eine Art Moderator oder eher “Narrator”; er sitzt, wie der Nachrichtenansager im Fernsehen, an einem Tisch und erzählt uns etwas über den Börsenkrach von 1929. Das war damals ein “Sturm in voller Stärke” – das ist das Stichwort für den folgenden Cut, mit dem wir ganz dicht, halbnah auf dem Parcours sind: rennende Pferde, ein Trabrennen. Der Schnitt verwirrt etwas, denn das wichtige Rennen, bei dem die Mutter gewonnen hat, ist ja schon gelaufen. Dann wieder der bedächtige Moderator, er könnte auch aus “Plus und Minus” stammen; er sagt etwas über “Ausverkauf”. Noch einmal die Halle, total. In Großeinstellung: eine Kasse, Geldscheine wandern von einer Hand in die andere. Schnitt: Pferderennen, eine längere Bildfolge in Zeitlupe, bedeutungsvoll, unterlegt mit elegischer Musik.

Wir wissen längst, dass es um Wetten beim Trabrennen geht – aber die Pferde rennen weiter ohne Pause, es sieht aus, als liefen sie für die Kunst, für einen Kunstfilm, einen Filmkunstfilm. Noch einmal die Kasse, noch einmal Geldscheine; der Kommentar sagt etwas über den Kursverfall bei em-tv; bildfüllend ist ein Computerbildschirm zu sehen, mit einer fallenden Aktienkurve. Am Schluss noch einmal der Erzähler, er berichtet über Rekordzahlen beim Börsenkrach von 1929.

Was zeigt uns das, was lehrt uns das? Dokumentarische Bilder, aber kein dokumentierter Ablauf, sondern eine komplexe Konstruktion. Eine Montage-Sequenz, so könnte man das definieren – aber es fällt auf, dass hier ganz verschiedene “Gattungsköpfe” (mit Kluge gesprochen) an der Kamera standen: die Werbefilmgattung, der Spielfilm, das Fernsehmagazin und der ambitionierte Kunstfilm. Wenn dies ein Dokumentarfilm ist, dann dokumentiert er allenfalls, dass es unterschiedliche Filmgattungen gibt, die hier jemand gegeneinander montiert hat, weil er uns etwas bestimmtes erzählen will. Aber was erfahren wir eigentlich in dieser Erzählung? Genau genommen nur, dass eine Mutter beim Pferderennen gewinnt und sich darüber freut. Außerdem erfahren wir, dass die Aktienkurse von em-tv im Merchandising-Geschäft in den Keller gepurzelt sind.

Wir sind auf Bildersuche im Reich der Ökonomie, aber offensichtlich sind hier die Bilder selbst auf der Suche nach ihrer eigenen Ökonomie. Die Bilder fallen dabei übereinander her, und sie fallen auseinander – sie verhalten sich wie gegenläufige Strategien, und sie scheinen nicht so recht zu wissen, was sie uns eigentlich erzählen wollen.

Sie erwarten von mir jetzt wahrscheinlich Schlussfolgerungen. Aber ich werde mit meinem Fazit vorsichtig sein. Warum gestaltet sich die Bildersuche im Reich der Ökonomie so schwierig? Eine naheliegende Antwort lautet: die Welt ist komplizierter geworden, unsere Wirtschaftsformen abstrakter. Ich will mich dabei gar nicht auf den Vormarsch des Virtuellen herausreden. Ein Problem besteht darin, dass Bildsprachen veralten, weil ihnen die Wirtschaftsformen davonlaufen. Der Karikaturist George Grosz konnte noch seinerzeit überzeugende Kapitalistenfiguren zeichnen; die Zigarre und der Zylinder reichten als Insignien aus. Und John Heartfield konnte mit der Sprache der Montage die Brutalität des Kapitalismus geißeln. Das funktioniert heute nicht mehr. Der Film über em-tv ist darum so interessant, weil er uns als Akteure der neuen Ökonomie ganz normale Menschen, sog. „kleine Leute“, ein paar Bauern, eine Hausfrau zeigt. Die Akteure wechseln - dies immerhin kann ein Dokumentarfilm vertrauenswürdig dokumentieren; im übrigen gehört er wohl einer
Kommunikationsweise an, die mir für eine Durchdringung der neuen Entwicklungen nicht besonders geeignet scheint.

Das Bild, das Sie an der Wand sehen, lasse ich mal einstweilen stehen, obwohl das Internet sicher nicht die letzte Auskunft sein wird. Am Internet fasziniert, außer dem Hypertext, ein neuer Radikalismus der Verschriftlichung: die kleinen Bilder, die Piktogramme, die Banner sind die Hieroglyphen unserer Zeit, unsere Bildschirme sind auf sie angewiesen, so wie die frühen Fotografien Talbots auf die Schrift angewiesen waren. Als Betrachter dieser Seite aus „Wallstreet-online“ kann man sich auf die Suche nach den Tücken der Kapitalbewegungen machen und herauszufinden versuchen, wie gerade das Schicksal der eigenen Aktie aussieht. Man kann sie aber auch ganz anders lesen: als großflächige Hieroglyphe einer Ökonomie, der es gelungen ist, den Antagonismus von Gebrauchs- und Tauschwert endgültig zu verschleiern und vor unserer Erkenntnis zu verbergen, dass alle materiellen und imateriellen Waren nichts anderes als geronnene Arbeit sind.