Abschlussdiskussion beim dfi-Symposium "Producing Spaces" © dfi / Conny Beissler

Producing Spaces - Wirkungsräume dokumentarischer Arbeit

Rückschau auf das dfi-Symposium vom 27. und 28. Januar 2022 im Filmhaus Köln

von Marcus Seibert

Pünktlich zum ersten dfi-Symposium im Foyer des wieder eröffneten Kölner Filmhauses lag Peter Zimmermanns Buch „Dokumentarfilm in Deutschland“ druckfrisch auf dem Tisch.

Aber, wie Bettina Braun zur Eröffnung betonte: Es sollte im folgenden Symposium weniger um die Geschichte des Dokumentarischen gehen, als um die sozialen Faktoren und Kontexte, insbesondere um die gesellschaftlichen Räume, in denen Dokumentarfilm entsteht oder die er eröffnet. Ein besonderes Augenmerk sollte dabei Filmen gelten, die in interessanten Konstellationen entstanden sind, oft jenseits der gängigen Formate und der klassischen Produktionswege von Sendern und Förderinstitutionen.

Diesem Feld von Filmen und Themen war der erste Tag des Symposiums gewidmet, der zweite galt der Archivarbeit mit der Fragestellung „Was wird ausgegraben und gezeigt und was nicht?“

Bettina Braun beim dfi-Symposium "Producing Spaces" © dfi / Conny Beissler

Auftaktimpuls von René Martens

René Martens beim dfi-Symposium "Producing Spaces" © dfi / Conny Beissler

Das Programm begann mit einer Rückschau von René Martens: Auf einer der Hamburger Filmschauen wurde in den 1970er Jahren der Film UPPER CLYDE SHIPBUILDERS über einen Werftarbeiterstreik gezeigt, was einer der Macher, Gustav „Schlacke“ Lamche von Cinema Action so kommentierte: „Das hier ist ein cineastisches Publikum, der Film hat aber Inhalte, die ein anderes Publikum verlangen.“ Er zeigte den Film dann auch gleich in den Hamburger Werften.

Heute wird, so Martens, kein Film mehr über Arbeitskämpfe gedreht, teils auch, weil es diese Art der Arbeitskämpfe kaum noch gibt. Aktuell bleibt aber die Frage, welche Filme für cineastische, welche für andere Teilöffentlichkeiten relevant sind und wie sie diese erreichen. Die Öffentlich-Rechtlichen wollen bestimmte Filme immer weniger mitfinanzieren und die Dokumentarfilme der Streaming-Dienste nähern sich zunehmend fiktionalen Formen an. Gewünscht sind „gut gemachte“ Retter- und Heldengeschichten, wie etwa THE RESCUE, den Tobias Kniebe, zu René Martens Überraschung, als „große Filmerfahrung“ des Jahres 2021 bezeichnete.

Auf der anderen Seite schafft die Herausbildung so eines neuen Mainstreams, so Martens, Möglichkeiten für eine „produktive Abgrenzung“ zum Beispiel partizipativer Konzepte, die eine Einbindung des Zielpublikums bereits bei der Filmherstellung anstreben (FONJA von Lina Zacher und IN SITU von Marcel Kolvenbach). Bei diesen Filmen nehmen sich die Filmemacher selbst zurück. Das war in den Duisburger Debatten Ende der 70er zwischen Klaus Wildenhahn und Klaus Kreimeier der zentrale Streitpunkt. Die „Selbstherrlichkeit des Autors“ sei nur durch „Realitäts-Unterworfensein“ in den Griff zu kriegen, so Wildenhahn, was Kreimeier als „Kult der Unmittelbarkeit“ geißelte.

Am Anfang von IN SITU wird Jaime Breilh zitiert: „Das 21. Jahrhundert ist der paradoxe Ausdruck eines schmerzhaften Gegensatzes zwischen der größten Verfügbarkeit wirtschaftlicher und wissenschaftlich-technologischer Ressourcen, die die Menschheit je hatte“, aber auch eines „unaufhaltsamen Vormarschs einer gewalttätigen Ungleichheit“. In der aktuellen Situation sollten sich Dokumentarfilm und Wissenschaft als Partner begreifen, beide haben die gleichen Feinde von rechts. Und Dokumentarfilme sollten sich wieder Eingriffe in gesellschaftliche Zusammenhänge, offensives Agieren zutrauen.

Dagegen ist ein Trend zum Rückzug auf die eigene Geschichte oder die der eigenen Familie zum Beispiel während des Nationalsozialismus erkennbar. Auch wenn es beeindruckende Filme dieses Genres Familienfilm gibt, so ist doch darin eine Abkehr von komplexen gegenwärtigen Themen unübersehbar. Aus diesem Grund schloss Martens mit einem Zitat aus Carmen Losmanns OECONOMIA: „Aktuell befinden wir uns in einer Art Wettrennen. Wer kollabiert zuerst: Unser Ökosystem Erde oder der Kapitalismus?“

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Video - Auftaktimpuls René Martens dfi Symposium PRODUCING SPACES 2022

Wirkungsräume dokumentarischer Arbeit: Werkstattgespräche

Dokumentarfilm und Wissenschaft
Marcel Kolvenbach: In Situ

Marcel Kolvenbach beim dfi-Symposium "Producing Spaces" © dfi / Conny Beissler

Marcel Kolvenbachs Projekt IN SITU entsteht in Kooperation mit den argentinischen Gesundheitsbehörden und der Universität Buenos Aires UNAL und wird von einer Buchpublikation begleitet. Ausgangspunkt für die Beauftragung war die Feststellung, dass nur 50% der Frauen mit den Präventionsmaßnahmen für Gebärmutterhalskrebs erreicht werden und deshalb die Mortalität in den ärmeren Bevölkerungsschichten deutlich erhöht ist.

Der Film ist für den Einsatz vor Ort in transformativen oder kollaborativen Projekten gedacht, zum Beispiel im Umfeld der im Film zu sehenden Müllhalde „El Volca“. Auf und von der Müllhalde leben zahlreiche Familien, in deren Umfeld Gesundheitsvorsorge keine Rolle spielt. Es gibt neuerdings eine Recycling-Stelle CAAC, in der die Anwohner*innen Arbeit finden können und die auch als soziale Anlaufstelle dient. Ein zweiter Schwerpunkt des Films untersucht eine Wolga-deutschen Community, in der Heiler*innen mehr vertraut wird als Ärzt*innen.

Kolvenbach empfindet die Zusammenarbeit mit den Sozialwissenschaftler:innen, die sich offenbar nicht ohne Ressentiments auf ein Filmprojekt eingelassen haben, als sehr fruchtbar, weil die hohen Standards der „Research Ethics“ vorbildlich für Dokumentarfilm sind. Die Beobachtungssituation beschreibt er trotz partizipativer Potentiale des Films als asymmetrisch: Die Dokumentarfilmer werden gehen, die Müllkippe bleibt, es ist aber zu hoffen, dass der Film die Situation der Menschen vor Ort indirekt verbessert.

In der anschließenden Diskussion wurde speziell die von Kolvenbach betonte partizipative Haltung des Films kritisch befragt, die aufgrund der Sprachbarrieren und der inkompatiblen Sozialisation von Kamerateam und Protagonist*innen nur schwer nachzuvollziehen sei.

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Video - Vortrag Marcel Kolvenbach dfi Symposium PRODUCING SPACES 2022

Participatory Video
Lina Zacher FONJA

Lina Zacher beim dfi-Symposium "Producing Spaces" © dfi / Conny Beissler

Lina Zacher stellte ihr Projekt FONJA vor. Schon während ihres Studiums an der Kunsthochschule Halle hat sie sich mit interkulturellen Fragestellungen zu Madagaskar, wo sie mehrere Jahre gelebt hat, filmisch beschäftigt.

Das Projekt Fonja geht auf ein Theaterprojekt 2012/13 in einem Jugendgefängnis in Antananarivo (Madagaskar) zurück. Das Filmprojekt sollte den jugendlichen Gefangenen die Möglichkeit geben, sich selbst zu filmen, ein Wunsch, den sie schon damals geäußert hatten. Die ersten Versuche gingen in Richtung Spielfilm und Verkleidungen, weil anfangs niemand dachte, das Alltagsleben im Gefängnis sei es Wert, gefilmt zu werden. Das Bedürfnis, mit der eigenen Geschichte zu Wort zu kommen, war aber stark genug, so dass die Protagonisten anfingen, sich gegenseitig zu interviewen. Die Protagonisten lernten, die Interviewsituation als Aufmerksamkeit durch die Kamera und die Kamera als Werkzeug zur Darstellung ihrer Lebenswirklichkeit wertzuschätzen. Entstanden sind 5 Terabyte Material, das ein Jahr lang erst mal sortiert werden musste.

Und weil es sich für Lina Zacher falsch anfühlte, das extern zu schneiden, bot sie ein Jahr später einen Montage-Workshop an. Die Botschaft ist, man kommt zurück. Und man gibt den Protagonisten Einfluss auf die Filmgestaltung.

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Video - Vortrag Lina Zacher dfi Symposium PRODUCING SPACES 2022

Politischer Aktivismus
Gernot Steinweg: von „Cinema Action“ zu „Arbeit und Film“

Gernot Steinweg beim dfi-Symposium "Producing Spaces" © dfi / Conny Beissler

Gernot Steinweg beschreibt in einem Videovortrag seinen Weg als politisch-aktivistischer Filmemacher von Cinema Action zu Arbeit und Film. Cinema Action um Gustav „Schlacke“ Lamche, Ann Lamche (später Guedes) und Eduardo Guedes verstand sich als Agitationsgruppe, deren Filme politische Wirkung haben sollten. Die Gruppe bildete sich im Mai 1968 in Leicester und begann mit Kampagnenfilmen gegen Spekulation und Mieterhöhungen (NOT A PENNY ON THE RENTS, 1969 und SQUATTERS 1969/70). Immer war die Kamera „mittendrin, ein Teil der Bewegung“. Den Durchbruch brachte 1970 FIGHTING THE BILL, einem Film gegen Pläne der konservativen Regierung, die Gewerkschaftsvertreter in den Firmen per Gesetz zu entmachten. Für den Film wurden extra Lieder komponiert, er lief in Social Clubs in ganz Großbritannien. Nach dem Werftarbeiterstreikfilm, der oben schon erwähnt wurde, folgte mit THE MINER’S FILM 1975 ein Film über Streiks und Aktivitäten der Bergarbeiter, die am Ende zum Rücktritt der Regierung Heath führten.

Die Filme dieser Zeit waren aus Sicht der arbeitenden Bevölkerung gefilmt und für sie gedacht. Mitte der 80er wurden vorwiegend Spielfilme gedreht, viele mit Ian Dury. Cinema Action hörte auf zu existieren, als Ann und Eduardo Guedes 1990 nach Portugal gingen. Das Archiv ist zum Glück vom bfi weitgehend gesichert worden und dank Christopher Reeves digitalisiert. (Siehe www.cinemaaction.co.uk und www.plattformfilms.co.uk)

Kurz nach seiner Rückkehr nach Deutschland 1971 gründete Steinweg nach dem Vorbild von Cinema Action die Gruppe Arbeit und Film zusammen mit Bina Elisabeth Mohn, die damals noch Schülerin war, später Feinmechanikerin. Heute betreibt sie das „Zentrum für Kamera-Ethnographie Berlin“ und forscht als Kamera-Ethnographin beim Sonderforschungsbereich „Medien der Kooperation“ an der Universität in Siegen. Zur Gruppe gehörten auch Petra Vasile, die eine Schlosserlehre machte und später erste Lokomotivführerin in Westdeutschland wurde, und der Filmemacher Enzio Edschmid. Anfangs ging es vor allem um das Vorführen von Filmen im Gewerkschaftszusammenhang wie KALLDORF GEGEN MANNESMANN der drei dffb-Student*innen Manfred Stelzer, Rainer März und Susanne Beyeler.

1975 sollten in Speyer die Focker-Werke geschlossen werden, womit 1.300 Mitarbeiter arbeitslos geworden wären. Der Film wurde als Schulungsmaterial eingesetzt, um vor allem die Fehler des damaligen Arbeitskampfes zu zeigen. Die Gruppe wurde bald gefragt, ob sie selbst einen Film über den Arbeitskampf drehen könne. Es entstand der Agit-Prop-Film UNSERE ARBEITSPLÄTZE IN SPEYER MÜSSEN BLEIBEN, der auf etwa 80 Veranstaltungen lief. Dank eines PicSync konnte direkt nach Vorführungen noch in den Schnitt eingegriffen werden. Am Schluss des erfolgreichen Arbeitskampfes wurde der Film WACHSAM TAG UND NACHT fertiggestellt, aus dem Steinweg einen Ausschnitt vorführte. Der Film wurde später zur Bildungsarbeit in den Gewerkschaften eingesetzt. 1984 löste sich Arbeit und Film auf. Die Kopien der Filme liegen im Filmmuseum Frankfurt.

Zum Archiv des BFI: www.cinemaaction.co.uk und www.plattformfilms.co.uk

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Video - Vortrag Gernot Steinweg dfi Symposium PRODUCING SPACES 2022

Dokumentarfilm und Kunst
Sandra Schäfer zu „Constructed Futures: Haret Hreik“ und „Westerwald - eine Heimsuchung“

Sandra Schäfer beim dfi-Symposium "Producing Spaces" © dfi / Conny Beissler

Sandra Schäfer stellt ihre Videoinstallation CONSTRUCTED FUTURES: HARET HREIK in der Filmversion vor.

Die Suggestionskraft der linearen Schnittfassung der vier Teile schätzt Schäfer stärker ein als die „weiche Montage“ (Farocki) einer Vier-Kanal-Installation der vier Teile. Film und Installation stellen das Viertel Haret Hreik in Beirut vor, das 2006 im Libanon-Krieg durch israelische Luftangriffe stark zerstört wurde, weil sich dort das Hauptquartier der schiitischen Terrormiliz Hisbollah befand. Das Viertel wurde danach und unter Federführung der Hisbollah in architektonischer Nachahmung der zerstörten Häuser wieder aufgebaut.

Im Film sind die Protagonist*innen nicht vor der Kamera zu sehen, aber zu hören. Im Fall von Hassan Nasrallah, dem aktuellen Hisbollah-Führer, wurde das Material eines Auftritts bei einer Parteiversammlung bewusst nicht im Original verwendet, sondern von einer Leinwandprojektion im Raum abgefilmt. Der Film zeigt gefilmte Interieurs, darunter die Wohnung der Mutter eines „Märtyrers“, Architektur-Modelle und Stadtpläne des Viertels. Das war einerseits ein Zugeständnis an die extremen Sicherheitsauflagen der Hisbollah, die Porträts und Außenaufnahmen nicht zugelassen hätte, andererseits eine ästhetische Entscheidung, den Raum für sich selbst sprechen zu lassen.

Die Installation war zuerst in Beirut in der Architekturkammer 2018 zu sehen, später im Umam Documentation & Research Center 2019, das sich im Viertel befindet und von dem 2021 von der Hisbollah ermordeten Filmemacher Lokman Slim und seiner Frau und Koautorin Monika Borgmann gegründet wurde. Der Ausstellungsort wurde von den Hisbollah-nahen Kreisen bereits als Affront gewertet.

Der Film geht der Frage nach: Was bedeutet es, ein Viertel genauso wieder aufzubauen, wie es war? Wie wird dabei mit Raum umgegangen? Der „Konservativismus“ der „Identitären Bewegung“ Hisbollah ist nicht nur hier spürbar: Der Gestus des Widerstandes hat sich über den konkreten Widerstand 2006 hinaus erhalten, ist aber durch Teilnahme von Kämpfern an der Seite Assads gegen den syrischen Widerstand ausgehöhlt worden, was man auch in den Statements der Märtyrer-Mutter spüren kann. Die Inszenierung von Raum, sei es für die Parteiversammlung, das private Märtyrermuseum oder anhand der Architekturmodelle, steht im Mittelpunkt des Films.

In der aktuellen Arbeit WESTERWALD wird ausgehend von einer Fotografie August Sanders, die eine Großtante von Sandra Schäfer zeigt, der Veränderung der Landschaft und ihrer Bewohner*innen in den letzten 100 Jahren nachgegangen. Konfrontiert werden Amateur- und Profifotografien, Statements älterer Verwandter und Bilder der „kontaminierten Landschaft“. Auch hier geht es um Inszenierung, die Inszenierung der Fotografie einerseits, der Zurichtung von Natur andererseits.

Moderiertes Gespräch zu Wirkungsräumen dokumentarischer Arbeit
Moderation: Christiane Büchner

Panel mit Gernot Steinweg, Christiane Büchner, Marcel Kolvenbach, Sandra Schäfer und Lina Zacher beim dfi-Symposium "Producing Spaces" © dfi / Conny Beissler

Christiane Büchner arbeitet im abschließenden Panel behutsam die Charakteristika der einzelnen Beiträge heraus, ohne sie gewaltsam auf einen künstlichen gemeinsamen Nenner zu bringen.

So ging es zu IN SITU und FONJA um unterschiedliche Konzepte des Partizipativen, bei Kolvenbach, wie in der Diskussion klar wurde, eher die Partizipation der Universität, deren Vertreter*innen auch als Protagonist*innen auftreten. Ziel ist es eher, als Kamerateam „unsichtbar zu werden“.

Gemeinsam sind den Bemühungen von Lina Zacher und Gernot Steinweg, dass die Protagonist*innen, die gleichzeitig auch erstes Publikum sind, in die Entscheidungen über die Filmgestalt eingreifen können, beziehungsweise konnten. Wobei hier festgestellt wurde, dass Lina Zacher allein durch die Anwesenheit einer zweiten, teils einer dritten Kamera klarstellt, dass die Partizipation der sich selbst filmenden Jugendlichen nicht eine der letzten Instanz ist, sondern die besondere Ebene eines Safe Space in den Film bringt, in dem sich Dinge ereignen können, die dem frontalen Dokumentarfilm verborgen bleiben, und etwas garantiert, was in Dokumentarfilmprojekten immer wieder schwierig sein kann, nämlich das Gefühl der „Zugehörigkeit zum eigenen Projekt“.

Gernot Steinweg stellte klar, dass es für Arbeit und Film ein ungeschriebenes Gesetz gab, niemals von den Auftraggebern Geld für die Filmarbeit anzunehmen, einmal, weil das im Arbeitskampf als unangemessen angesehen wurde, andererseits, um die Unabhängigkeit nicht zu verlieren. Sandra Schäfer und Lina Zacher haben in diesem Sinne keine Auftraggeber. Sie erklärten allerdings genauso wie Marcel Kolvenbach, dass sie für ihre Projekte grundsätzlich erst mal anfangen mit eigenem Equipment zu drehen.

In allen Fällen ist die Rückkopplung über das Publikum der Protagonist*innen essentiell. So berichtet Sandra Schäfer, dass die Mutter des „Märtyrers“ als Rückmeldung gab, dass sie einen Film mit längeren Pausen und ohne Musik, obwohl es ihren Sehgewohnheiten widersprach, durchaus gut fände, weil diese Form nicht von den Statements ablenke.

Lina Zacher berichtet, dass sie den Gefängnisfilm auch auf den Philippinen gezeigt hat und die Empathie mit den Delinquenten über Kontinente hinweg überraschend fand. Auf die Frage, warum sie sich derart auf Madagaskar kapriziert hat, antwortet sie, dass sie es, weil sie Madegassisch spricht, als Aufgabe ansieht, Kulturaustausch – wenn auch aus der privilegierten Position heraus – voranzutreiben. Ihr nächstes Projekt findet in einem deutschen Jugendgefängnis statt. Marcel Kolvenbach warnte davor, gegen einen dokumentarischen Universalismus die identitätspolitische Karte auszuspielen. Man müsse in postkolonialistischen Zusammenhängen allerdings immer die übriggebliebenen alten Strukturen sichtbar machen.


Wirkungsräume dokumentarischer Archive

Impuls: Arbeiten mit dokumentarischem Archivmaterial
Madeleine Bernstorff

Madeleine Bernstorff beim dfi-Symposium "Producing Spaces" © dfi / Conny Beissler

Der zweite Tag des Symposiums begann mit einem „Praxisbericht mit einigen Fragen“ von Madeleine Bernstorff zu ihrer Erfahrung mit Archiven und den sie beeinflussenden unterschiedlichen Politiken in DDR, BRD oder neuerdings den neoliberalen Sparmaßnahmen.

Eine erste systematischere Nutzung von Filmmaterial aus Archiven erfolgte in den 70er-Jahren im Rückgriff auf Filme der Weimarer Zeit. Und schon damals war die Frage virulent, wie man mit den Rechten des Archivierten umgeht. „Klauen“, zum Beispiel im Netz, ist in einzelnen Situationen sicher ein probates Vorgehen, lässt aber neben der Rechtefrage außer Acht, dass die Archivalien im Netz nur Referenzen sind. Digitales Scannen hat es allerdings möglich gemacht, Faksimiles beispielsweise von Fotos herzustellen, die als Stellvertreter der Originale durchgehen können.

Angefangen hat die Archivierung von politischer Fotografie 1898. Als erstes globales Archiv vorgesehen war das „Archive de la planète“ von 1908, gegründet von Albert Kahn, einem Bergson-Schüler. Im Auftrag des Archivs wurden Fotografen und Kameraleute weltweit beauftragt, Menschen und Ereignisse abzubilden.

Unter Archiv fallen in Genese, Struktur und Sammelgebiet sehr unterschiedliche Institutionen:
Das „Centre cinématographique marocain“ in Rabat diente lange auch als Kopierwerk für Subsahara-Filme. Alle Bundesländer haben „Landesarchive“, darüber hinaus gibt es das „Bundesfilmarchiv Berlin“ mit der Nitrofilmabteilung in Hoppegarten, das „Filmmuseum Düsseldorf“, das „Schafgans Archiv“ in Bonn, „Each One Teach One“ im Berliner Wedding. Das „Centre audiovisuel Simone de Beauvoir“ informiert zur feministischen Videobewegung. Das „Polar Mudeum Tromsø“ hat Bilder von Polarexpeditionen. Das „Archiv der französischen Besatzungszone“ in Colmar bietet viel Material zur Entnazifizierung, die „Deutsche Kinemathek“ beherbergt neben dem Filmarchiv ein Schriftgutarchiv mit Bewerbungsakten der Filmhochschulen. Es gibt das „Spinnboden Lesbenarchiv“ und die „Bibliothek der psychiatrischen Klinik in Dakar“, in der Hubert Fichte Interviews geführt hat. Im „DOMiD e.V. – Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland“ in Köln ist kürzlich der verloren geglaubte Film ABSCHIED von Želimir Žilnik wiedergefunden worden, der im Anschluss von Can Sungu und Malve Lippmann vorgeführt wurde.

Wer jemals in einem Archiv war – und manche reden eher drüber, als eins von innen zu kennen – der weiß um die Beharrlichkeit und Mühe, die es braucht einem Archiv Archivalien zu entlocken. Die „tiefe Muskulatur“ der Archive, wie Madeleine Bernstorff das nennt, sorgt gerne für den Schutz der Bestände, was dem Verbergen gleichkommt. Zum Glück wandeln sich diese „hegemonialen Mechanismen“ in vielen Archiven mit dem Generationswechsel und der Hinweis darauf, dass Archivalien zugänglich sein müssten, um etwas wert zu sein, hätte, so Bernstorff, ihr immer wieder Türen geöffnet, die verschlossen schienen, wenn auch manchmal erst Verzweiflungstränen fließen mussten.

Trotzdem gibt es erstaunliche Sperrvermerke wie die zu Akten der Suffragette Emily Davison von 1911 in den „National Archives“ in London, die „closed until 2014“ seien. Auch das Scheitern an Archiven erzählt etwas über sie. So lag angeblich der VW-Film FREMDVÖLKISCHE IM VW-WERK von Fritz Heidrich (1942-44), zu dem gestochen scharfe Filmstills im Buch von Mommsen und Grieger über Zwangsarbeit vorlagen, im VW-Werksarchiv angeblich nur als VHS-Kopie vor, in der Gesichter nicht erkennbar waren.

Stefanie Schulte Strathaus und ihre Kolleg*innen haben seit 2014 mit dem „Living Archive“-Projekt im Arsenal die Zugänglichkeit von Archiven offensiv eingefordert. Begriffe wie „Heritage“ oder „Filmerbe“ sind Vokabeln des Besitzes, es geht bei Archiven jedoch eher um die Pflege und Verfügbarkeit auch „giftigen“ Materials. So wurde im WDR-Archiv zum Beispiel der Film ON AFRICA von Skip Norman wiedergefunden, der zuletzt digitalisiert worden ist. Auch Ella Bergmann-Michels Film DIE LETZTE WAHL von 1932/33 ist ein solcher Film.

„Giftige Materialien“ ziehen speziell im Bereich Amateurfilm der 1930er Jahre fragwürdige Sammler an, bei denen sich History-Sendeformate bedienen, obwohl ihren Macher*innen klar sein muss, woher das Material stammt und wozu es dient. Ute Aurand bringt die Ausschlusskriterien für Archivierungen auf die Formel: „Filme geraten in Vergessenheit, weil Bestimmte sich immer nur um Bestimmte kümmern.“

Kuratorische Praxis im Sinema Transtopia
Can Sungu / Malve Lippmann

Malve Lippmann und Can Sungu beim dfi-Symposium "Producing Spaces" © dfi / Conny Beissler

Nach der Vorstellung der zwei Archiv-Filme mit Migrationsthematik ABSCHIED und DOKUMENTARISCH = DOKUMENT stellten Malve Lippmann und Can Sungu, die bereits beim letzten Symposium „Banden bilden“ mit ihrem 2014 gegründeten Projekt Bi’bak vertreten waren, die Aktivitäten dieses Projekts vor.

Seit 2020 gibt es das Sinema Transtopia am Alexanderplatz, das allerdings wegen Corona nur eingeschränkt bespielt werden konnte. Überbrückt wurde diese Zeit durch Filmvorführungen auf dem Trottoir vor dem Kino, zum Beispiel mit dem Programm FREUNDSCHAFT AUF ZEIT, kuratiert von Tobias Hering, in dem es um Vertragsarbeiter*innen in der DDR ging. In einer Zeit, in der die Zentren von Großstädten zunehmend zu kulturellen Wüsten werden, versteht Bi’bak „Producing Spaces“ ganz wörtlich als Aufforderung, diese Leerräume neu als Kulturräume zu definieren. Bedroht ist das Sinema Transtopia im Haus der Statistik durch die Umwidmung des Gebäudes. Vermutlich muss es bereits 2022 schließen.

Bi’bak verfolgt generell einen transnationalen polyzentrischen Ansatz. Dazu gehören Ausstellungen wie „Bitter Things“ zu Narrativen und Erinnerungen transnationaler Familien oder Publikationen wie „Bitte Zurückspulen. Zur Deutsch-Türkischen Videokultur in Berlin“ (Archive Books).

Bei „Bitter Things“ hat Bi’bak bereits mit dem DOMiD-Archiv zusammengearbeitet. Die meisten Materialien sind allerdings Oral History und ergeben ein Konternarrativ gegen den Mainstream. Es ging bei dem Projekt um die Trennungsgeschichten, die sich ergaben, wenn Kinder in den Herkunftsländern blieben, während ihre Eltern in Deutschland arbeiten gingen. Ausgestellt wurden auch die Objekte, die aus Deutschland zurückgeschickt wurden. Der konkrete Hintergrund für die Trennung von Familien war die verfügte Gesetzesänderung, die es Kindern über 16 verbot, nach Deutschland nachziehen zu dürfen. Die Trennungssituation ist auch Gegenstand der Pop-Kultur geworden.

In der Arbeit von Bi’bak spielt der Zugang zu Archiven eine wichtige Rolle, der in den letzten Jahren erkennbar leichter geworden ist. Dabei hat sich gezeigt, wie wichtig kulturelle Zentren, Räume für Filmkultur für den kulturellen Austausch in den Zentren von Großstädten sind, die zunehmend zu kulturellen Wüsten werden. „Producing Spaces“ ist hier ganz wörtlich zu verstehen als Aufforderung, diese Leerräume neu als Kulturräume zu definieren.

Auffällig ist gerade bei der Betrachtung der Bestände, dass der deutsche Filmkanon einseitig ist. Es fehlen generell Filme von People of Colour. Die Reihe „Fiktionsbescheinigungen. 16 filmische Perspektiven auf Deutschland“ in Kollaboration mit Forum Berlinale und Arsenal versucht hier eine Lücke zu schließen, ebenso die Reihe „Die Eingeladenen“ in Kooperation mit dem DOMiD zum 60. Jubiläum des Anwerbeabkommens zwischen Deutschland und der Türkei.

Der standardmäßige Umgang mit Migration im Film ist auch Filmen wie DOKUMENTARISCH = DOKUMENT, in dem – als Experiment- aus demselben Material unterschiedliche Beiträge geschnitten wurden, anzusehen: Obwohl hier die mediale Darstellung von „Gastarbeitern“ thematisiert wird, kommen sie selbst fast nicht zu Wort. Das ist bei ABSCHIED von Želimir Žilnik grundsätzlich anders: Hier erzählt ein jugoslawischer Arbeiter, der von München nach Jugoslawien zurückkehrt, ausgiebig über sich, sein Leben in Deutschland und über die Mitbringsel an seine Familie.

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Tonaufnahme - Kuratorische Praxis im Sinema Transtopia - dfi Symposium PRODUCING SPACES 2022

Perspektive eines Filmemachers und Auseinandersetzung mit der Kulturgeschichte von Migrant*innen anhand von Archivmaterial
Cem Kaya

Cem Kaya beim dfi-Symposium "Producing Spaces" © dfi / Conny Beissler

Cem Kaya schließt hier mit seinem Film AŞK, MARK VE ÖLÜM – LIEBE, D-MARK UND TOD an, der unter anderem Found Footage aus der türkisch-deutschen Pop-Szene der letzten sechzig Jahre montiert.

Die Archivarbeit förderte dabei „Bilder, die es nicht geben darf“ zutage: Zum Beispiel Bilder von Freizeitvergnügungen und Hochzeitsvideos als wichtige Quellen der Recherche, aber auch Sendungen der Öffentlich-Rechtlichen wie BRIEF AUS DER TÜRKEI - TÜRKIYE MEKTUBU, NACHBARN AUS EUROPA (beide ZDF) oder IHRE HEIMAT, UNSERE HEIMAT, das von 1965 bis 1993 im WDR gesendet wurde, die Vorgängersendung von BABYLON oder Radiosender wie KÖLN RADYOSU, als Vorläufer von etwa COSMO.

IHRE HEIMAT, UNSERE HEIMAT bestand aus „Gastarbeitersendungen“ für verschiedene Nationalitäten. In der Folge des Militärputsches in der Türkei waren die Spannungen innerhalb der türkischen Redaktion dadurch spürbar, dass der Nachrichtenteil linientreu ausgerichtet war, die Kulturberichte allerdings Exilkünstler portraitierten.

Wichtig für Kaya ist die Feststellung, dass die in Deutschland entstehende migrantische Kultur ganz klar ein – weitgehend nicht wahrgenommener – Teil der deutschen Kultur ist.

„Die Nachtigall von Köln“, Yüksel Özkasap, war eine türkischsprachige Sängerin aus Köln, die Label Türküola und Uzelli saßen in Köln, produzierten vorwiegend Musikkassetten, ein riesiger Markt, der in allen Kiosken präsent war und doch fast völlig unter dem Radar der nichttürkischsprachigen deutschen Öffentlichkeit lief. Machmal kam es zu großen Pop-Events mit Stargästen aus der Türkei. Oder Bands wie Ideal griffen in dem Song, der Kayas Film den Titel gegeben hat, auf ein Gedicht von Aras Ören zurück.

Musikalische Kultur spielte sich in Deutschland neben dem Kassettenmarkt über Jahrzehnte vorwiegend auf Hochzeiten ab, die anders als in der Türkei über die Eheschließung hinaus wichtige musikalische Auftrittsmöglichkeiten auch für Exilmusiker wie beispielsweise die Band Derdiyoklar, Paarbörsen und Klassentreffen in einem waren.

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Tonaufnahme - Perspektive eines Filmemachers: Cem Kaya - dfi Symposium PRODUCING SPACES 2022

Beispiele aus der Praxis eines Archive Researchers und Archive Producers
Monika Preischl

Monika Preischl gab einen Einblick in ihre Arbeit als „Bildfinderin“, als Visual Researcher.

Der erste Schritt bei der Recherche ist die Erschließung. Dazu gehört die Erkundigung der Rechtefrage, verbunden mit einer Risikobewertung des ganzen Projekts. Hierfür ist bereits der Kontakt zu Archiven und Experten erforderlich. Die Klärung „benutzungsverhindernder“ Momente ist für manche Projekte entscheidend. So war bei BEUYS zwar die Archivlage mit der Unterbringung des Bild-Nachlasses auf Schloss Moyland klar, nicht jedoch, ob die Beuys-Witwe Ute Klopphaus, die Rechteinhaberin von ca. 60.000 Fotoabzügen ist, zu einer Kooperation bereit wäre.

Aus diesem Grund ist auch die Anwesenheit der Rechercheurin bereits bei der Produktionsplanung solcher Filme unabdingbar, unter anderem wegen der Kalkulation der Kosten.

Die Rechercheurin begleitet ein Projekt sinnvollerweise bis in den Schnitt. Dort muss zwar nicht sofort mit Originalmaterialien gearbeitet werden, entscheidend ist am Schluss der Schnittarbeiten aber, wie die ausgewählten Materialien in der Originalfassung in den Film kommen und ob sich das „Versprechen“ des Materials im Sinne des Films einlösen lässt. Als Beispiel zeigte Preischl abschließend einen Ausschnitt aus dem Film DAS JAHR BABYLON von Matthias Luthardt, in dem auf sehr unterschiedliche Art Archivmaterial verwendet und in Off-Tönen oder als Reenactment gezeigt wird.

Monika Preischl beim dfi-Symposium "Producing Spaces" © dfi / Conny Beissler

Moderiertes Gespräch zu Wirkungsräumen dokumentarischer Archive
Moderation: Madeleine Bernstorff

Madeleine Bernstorff, Cem Kaya, Malve Lippmann, Can Sungu und Monika Preischl beim dfi-Symposium "Producing Spaces" © dfi / Conny Beissler 

Die anschließende Diskussionsrunde kreiste vor allem um praktische Fragen zur Archivarbeit. Aktuell suchen speziell Streamer vermehrt nach „dokumentarischem Content“. Die Beistellung der Sender ist nach wie vor problematisch. Seit 2006 muss man Senderarchiven eine Freistellung von allen Rechtsansprüchen unterschreiben. In den USA gibt es dagegen den Terminus des „Fair Use“.

Cem Kaya hatte beim Auffinden von Archivalien auch mit Sprachbarrieren zu kämpfen: Viele türkische Titel und Namen werden in deutschen Archiven falsch geschrieben, auch die Rubriken, unter denen man suchen muss, sind teils irritierend (unter G wegen Gastarbeiter beispielsweise). Vielfach lief die Suche nach möglichen Protagonist*innen aber über die Communities. Ein langwieriger und umwegreicher Prozess insgesamt.

Monika Preischl berichtet, dass die Recherchen des Materials für UNE JEUNESSE ALLEMANDE zehn Jahre gedauert hätten. Ein Problem bei Bildmaterialien, so Peter Zimmermann, ist die ungeklärte Rechtslage, ob hier überhaupt das Zitatrecht in Anwendung gebracht werden kann. Pirate Cinema nennt das Copyright deshalb „das Öl des 21. Jahrhunderts“. Die Kosten bei DCP- oder DVD-Bereitstellung sind oft horrend.

Ein Problem stellt laut Madeleine Bernstorff auch der „koloniale Entdeckungsblick“ in die Archive dar. Dem widmen sich auch die Blickpilotinnen in ihren Publikationen. Wenn man es als gesellschaftliche Aufgabe formuliert, Archive zugänglich zu machen, so Monika Preischl, dann muss man sich auch fragen, wie es um die Diversität der Zugänge bestellt ist. Und eine sich ständig neu stellende Frage ist „Wo beginnt eine kommerzielle Verwendung?“, da diese mit anderen Kosten verbunden ist.

Der Dokumentarfilm in der Lehre. Ein Blick in die Zukunft

Abschlussrunde des dfi-Symposiums "Producing Spaces" © dfi / Conny Beissler

Die Abschlussrunde des Symposiums mit Dozierenden und Studierenden des Bereichs Dokumentarfilm der verschiedenen Filmhochschulen fand im Foyer des Filmhauses in großer, offener Runde statt.

Bettina Braun eröffnete die Diskussion mit der Feststellung, dass es ihr in Lehrveranstaltungen z.B. mit Redakteur*innen, die lange Dokumentarfilme machen wollen, schwerfalle sich vorzustellen, dass all diese Filme gemacht werden und wo diese eigentlich laufen sollen.

Daraus ergibt sich die Frage, wie sich die Institutionen angesichts des rasanten Wandels in den medialen Räumen aufstellen.

Karin Jurschick von der HFF München formulierte, worin die meisten anderen Dozent*innen einstimmten, dass es in erster Linie um eine Art Persönlichkeitsentwicklung geht, die im Rahmen des Studiums gefördert wird: um „den Mut sich auszudrücken“, sich auf die Forschungsreise auch nach Nicht-Sichtbarem zu begeben, die alles dokumentarische Arbeiten immer bedeutet.

Meike Martens betonte, dass der „kollektive Raum“, in dem Projekte entstehen, für die PMMC in Halle im Zentrum stehe.

Phillip Scheffner formulierte das für seine Arbeit an der KHM in Köln als Appell zur Vernetzung. Schon der Titel seiner Professur enthalte den Plural „dokumentarische Praxen“, was ihm sehr gefalle. Das Alleinsein des künstlerischen Egos sei auch „politisch gewollt“ und kritisch zu beurteilen.

Ulrike Franke versteht, wenn Studierende nicht die „Leidensfähigkeit“ mitbringen, die dokumentarisches Arbeiten als Lebensinhalt abverlangt. Insofern begrüßte sie die Offenheit der Ausbildung an der KHM, die im Sinne einer Kunsthochschule keine Spezialisierung in der Ausbildung vorschreibt.

Thorsten Schütte von der Filmakademie Ludwigsburg legte Wert darauf, dass auch in den von ihm koordinierten Studiengängen keineswegs die vorab aus dem Internet zitierte Ausrichtung auf eine „erfolgreiche Laufbahn in der Film- und Medienbranche“ gradlinig unterrichtet wird oder nur werden kann. Es gibt die Ausbildung zur Dokumentarfilmer*in im Sinne einer handwerklichen Ausbildung, aber die Studierenden landen nur in seltenen Fällen beim abendfüllenden Dokumentarfilm.

Rüdiger Suchsland stellte in diesem Kontext die Zwischenfrage, warum eigentlich die meisten Dozierenden keine klare Richtung vorgeben wollen und ob sich nicht Studierende eine weniger defensive Orientierung wünschten. „Man studiert ja nicht an einer Filmhochschule, um Dichter zu werden.“

Emerson Culurgioni sieht es für die dokumentarische Praxis als entscheidender an, wenn man als Ergebnis des Studiums eine Haltung entwickelt.

Felix Golenko (Ludwigsburg) fand dagegen die in seinem Studium durchaus vorhandenen klar strukturierten Angebote gut, obwohl man sich gegen einen Abschluss mit Dokumentarfilm hätte entscheiden können.

Marcel Kolvenbach formulierte es als Problem, dass er als Filmemacher eigentlich Programm für die Elterngeneration mache und damit konfrontiert ist, dass Filme im Internet hohe Klickzahlen hätten, die von Selfmade-Filmemacher*innen teils nach betriebswirtschaftlichen Kriterien erstellt werden.

Die von Marcus Seibert zugespitzte Frage in die Runde, ob das in der Lehre als Generationsgap zwischen Fernsehsozialisierten und einer Internetjugend auftritt, fand Karin Jurschick überflüssig: ein Problem der HFF ist es eher, die gewünschte Diversität auch zu erreichen: Wie gewinnt man Studierende, die in München übliche Mieten nicht bezahlen können?

Sandra Riedmair sieht jede Spekulation zur Zukunft der Film- und Medienlandschaft als vergeblich an, und selbst wenn es das Fernsehpublikum eines Tages nicht mehr gäbe, zeigt ihre Arbeit in Kollektiven mögliche alternative Räume auf.

Bettina Braun hakte mit einem konkreten Beispiel nach. In dem von Monika Preischl gezeigten Ausschnitt aus DAS JAHR BABYLON von Mathias Luthardt werden teils in schnellen Schnitten im Mehrkamerasystem Zitate inszeniert, höchst diskutable Verfahren, die allerdings inzwischen im Fernsehalltag auch bei den Streamingdiensten gang und gäbe sind und teils von Studierenden wie selbstverständlich eingesetzt werden. Als Lehrende kritisiert sie dies einerseits, fragt sich andererseits aber immer wieder, ob sie alten Sehgewohnheiten verhaftet ist, die inzwischen von den üblichen Zubereitungsformen überholt worden sind.

In der sich anschließenden Diskussion vertrat Marcel Kolvenbach die These, dass die Studierenden sicher nicht in die Falle tappen, Formate unreflektiert zu bedienen. Für ihn fällt es unter künstlerische Freiheit, bei der er Studierende auch in dem Wunsch unterstützt, einen schnellen 60 Sekundenclip zu schneiden.

Karin Jurschick sieht das anders und sagt in ihren Seminaren schon, was sie von schnellen Schnitten in Dokumentarfilmen ihrer Studierenden hält. Sie sieht die Diskussion über Verfahrensweisen als einen wichtigen Teil des Studiums an, unabhängig vom Markt.

Thorsten Schütte sieht es ähnlich, dass die Kommunikation über Film für die Ausbildung essenziell ist.

Phillip Scheffler sieht da eine grundsätzliche Fragestellung: In der eigenen Praxis sind alle, die Dokumentarfilme machen, immer mit Annahmen konfrontiert, zum Beispiel denen der Protagonist*innen, man mache einen Film fürs Fernsehen, also müsse man sich entsprechend vor der Kamera verhalten. Die Dekonstruktion der Annahmen ist nicht nur ein entscheidender Teil der Arbeit, sondern oft genug Teil des Erfolgs und ein Mittel, um neue Räume zu schaffen. Der Erfolg von HBO-Serien gehe sicher darauf zurück, dass sie alle Annahmen unterlaufen haben, die zuvor in deutschen Serien als gesetzt galten.

Nach ihrem Statement zum Symposium als Critical Friend gefragt, , erklärte Sandra Riedmair, sie habe das Symposium als vielstimmig erlebt. Viele verschiedene Rollen der dokumentarischen Arbeit seien vorgestellt worden und es beunruhige sie jetzt schon, in wie vielen Rollen sie selbst aktiv ist und das durchaus als Internalisierung einer neoliberalen Politik der Flexibilität beobachte, sich jederzeit je nach Ausschreibung für eine andere Form, eine andere Arbeit entscheiden zu können.

Emerson Culurgioni formulierte Probleme bei der Arbeit im Kollektiv, zum Beispiel wenn das Kollektiv zu groß wird oder, wie er selbst gerade erlebt, man die Orientierung zu verlieren droht. Filme wie OECONOMIA begeistern ihn deshalb, da sie zeigen, dass wir alle nicht mehr wissen, wo wir stehen, weil uns beispielsweise das ökonomische Wissen fehlt. Cem Kayas Filmausschnitte haben ihn berührt, weil die Sicht des „Gastarbeiterkindes“ ihm vertraut ist und sie mit großem Humor den Zustand zwischen zwei Räumen als eine lebenswerte Insel präsentieren.

Marcus Seibert