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Interviews mit Dokumentarfilmern

Menschen, Orte, Alltag

Michael Girke im Gespräch mit Gabriele Voss und Christoph Hübner

pdf Michael Girke im Gespräch mit Gabriele Voss und Christoph Hübner

MICHAEL GIRKE: Vor vielen Jahren hat Christoph einen Text über den Mülheimer Filmemacher Reinald Schnell geschrieben. Darin steht auch, dass ihr beiden ins Ruhrgebiet gezogen seid, um hier Filme zu machen. Was waren die Motive, ausgerechnet hier längerfristig leben und filmen zu wollen?

Gabriele Voss und Christoph Hübner

CHRISTOPH HÜBNER: Die erste filmische Begegnung mit dem Ruhrgebiet war ein Film, den ich als Student an der Spielfilmabteilung der Hochschule für Film und Fernsehen (Hff) in München gedreht habe. Zu einem Zeitpunkt, an dem die dort nach Hollywood-Modell nacherzählten Geschichten mich nicht mehr interessierten, ich ein starkes Bedürfnis nach Realität hatte. Zuvor hatte ich eine Zeitungsnotiz über einen Streik gelesen, einen "wilden", nicht von der Gewerkschaft organisierten Streik. Mit spektakulären Aktionsformen: ein Walzwerk wurde besetzt, neue, phantasievolle Solidaritäts- und Öffentlichkeitsformen wurden entwickelt. Damals, Anfang der 70er Jahre, fanden wir überaus interessant, was auf Seiten der Arbeiterbewegung passierte.
Wir fuhren also nach Duisburg-Huckingen, zum dortigen Mannesmann-Werk, wo der Streik inzwischen längst vorbei war. Aus vielen Recherchen und Gesprächen erarbeiteten wir ein Drehbuch, eine Art filmischer Rekonstruktion, beinahe wie ein Brechtsches Lehrstück. Aber wirklich besonders war die Arbeit mit diesen Menschen. Warm und intensiv. Die Erfahrung einer Wirklichkeit, wie ich sie bis dahin nicht gekannt hatte.

Das Besondere dieser Erfahrung hast du am Ruhrgebiet festgemacht?
CH: Nicht nur die Landschaft machte diesen tiefen Eindruck, sondern die Menschen. Alles hier war anders, als ich es von meiner Herkunft her kannte. Ich bin in eher bürgerlichen Verhältnissen groß geworden. Zudem war „Huckinger März“ ein interessantes Stück Filmarbeit, kein reiner Dokumentarfilm. Es gab darin Rollen, die besetzten wir nicht streng nach dem Vorbild der Wirklichkeit, sondern es wurde, wie man heute so schön sagt, gecastet, geguckt, wer sich für was eignen mag. Die wunderbaren Erfahrungen bei all dem waren das Samenkorn einer sehr engen Beziehung zum Ruhrgebiet. Der nächste Filmhochschulfilm entstand deshalb auch wieder hier. Als uns dann nach dem Ende des Studiums eine Anfrage aus Hamburg erreichte, ob wir an der Hochschule für bildende Künste (HfbK) Film unterrichten wollten, haben wir das für ein paar Jahre gemacht, aber das Ruhrgebiet blieb eine Art Sehnsuchtsort.

Die Antworten bewegen sich zwischen 'Ich' und 'Wir' hin und her. Alles Gesagte gilt auch für Gabriele?
GABRIELE VOSS: Ich habe etwas anderes studiert als Film, ging aber oft mit an die Filmhochschule, z. B. zu den legendären Vorlesungen von Helmut Färber. Mir sind vor allem zwei Dinge aus dieser Zeit wichtig. Das Drehbuch für „Huckinger März“ war in München entstanden; die Arbeiter kommentierten unsere Dialoge dann aber mit den Worten: 'So sprechen wir doch gar nicht!' Das hat mit Christophs eben erwähnter Einschätzung der Hochschule zu tun. Dort schrieb man Drehbücher, die dramaturgisch vielleicht okay waren, aber oft wirklichkeitsfremd. Beim Korrigieren des Drehbuchs fiel mir dann auf, dass die Leute eine von ihren Erfahrungen erfüllte, bilderreiche Sprache hatten, die uns, denen es an dieser Erfahrung mangelte, nicht zur Verfügung stand. So gingen wir von nun an davon aus, dass man zunächst viel von einer Realität kennen lernen muss, bevor man einen stimmigen Satz dazu schreiben kann.
Zudem meinten die Arbeiter, die Medienleute kämen nur dann, wenn ein Streik oder irgendwelche andere 'Action' wäre; wenn man wirklich etwas erfahren wolle, müsse man sich den normalen Alltag angucken, weil im Alltag alles entstehe und auch wieder verschwinde. Diese Sicht hat viel zu unserer Art Filme zu machen beigetragen, und sie hat auch mit unserer Hinwendung zum Dokumentarischen zu tun.

Welche Filme haben zur Filmhochschulzeit beeindruckt und beeinflusst?
CH: Wir wuchsen mit den großen amerikanischen Regisseuren auf, John Ford, Howard Hawks. In meinem ersten Filmhochschulfilm zitiere ich aus Nicholas Rays „Johnny Guitar“, den ich schätzte. Zu den Amerikanern kam Jean Renoir hinzu. Seine vor dem Zweiten Weltkrieg gemachten, wundervollen Filme haben ja dokumentarische Aspekte. Jean-Marie Straub war ganz wichtig, Godard und Kluge muss man noch hinzunehmen. Alles eher Spielfilme. Mit dem Dokumentarfilm kam ich sehr spät in Berührung. Wiederum durch Helmut Färber, der einen großen Anteil an meiner damaligen Filmbildung hatte. An der Hochschule hatte man drei Individual- und einen Gruppenfilm zu machen. Mein Gruppenfilm „Drei Ansichten einer Stadt“ enthält eine Szene, in welcher die Kamera auf Schienen fährt und einzelne Personen aus einer von mir zusammengestellten Gruppe herausnimmt. Diese zitieren dann Texte über das Leben in der Stadt, die wir recherchiert hatten. Dokumentarisches Spiel sozusagen. Hieraus entstand später die formale Idee für „Huckinger März“. „Drei Ansichten einer Stadt“ lief dann übrigens auf den Hofer Filmtagen, aber die Godardschen Elemente haben die Leute etwas verstört.

Wir bewegen uns in den 70ern. Wie fanden die ihren Niederschlag in Filmen? Hatten die so genannten 68er einen ausgeprägten Kinobegriff?
GV: Es herrschte damals eine enorme Aufbruchstimmung, das europäische Kino war in Bewegung. Es gab die Nouvelle Vague und von Oberhausen ging die Parole aus, dass Opas Kino tot sei, es also um anderes gehen müsse, als um all diese Heimatfilme oder diese Kulturfilme, die einem in der Schule vorgesetzt wurden. In München war es regelrecht fiebrig. Ständig hatte man neue Filme zu sehen; jeden Freitag beispielsweise Independentfilme aus den USA. Man wusste nicht, was gezeigt wurde, nur dass es freitags um 22 Uhr ein neues Programm gibt. Es kam zu ersten Begegnungen mit Kenneth Anger und anderen. Das Kino dieser Jahre war für mich ein Ort, wo man sich offener äußerte als anderswo in der Gesellschaft, jedenfalls anders als in dem Umfeld in Hagen, aus dem ich kam und das katholisch geprägt war.
CH: Mich hat der in diesen Jahren ans Kino herangetragene politische Agitationsbegriff nie so sehr interessiert. Eher die sogenannten Avantgardefilme, die sich mit der Filmsprache selbst auseinandersetzten. In der politischen Szene wurde so etwas als formale Spielerei abgetan. Gabriele war damals politisch weitaus engagierter als ich. Ihre Kommilitonen warfen ihr sogar vor, dass sie immer mit „Künstlern“ rumhinge. Künstler, das hat skeptisch gemacht. Die Deutsche Film- und Fernsehakademie (dffb) in Berlin war damals der politische Antipode zur Münchner Filmhochschule. Einmal war ich mit einer Delegation von Münchner Studenten dort eingeladen. Ich dachte: die beschäftigen sich zwar mit politischer Theorie, vom Film, von Filmgeschichte haben die aber weniger Ahnung. Politisch hingegen fühlten wir uns im Vergleich mit den Berlinern etwas naiv. Aber der große Vorteil der Münchner, durch Helmut Färber und andere verkörpert, war die fortwährende Beschäftigung mit Filmen und Filmgeschichte. Es ging darum, eine eigene Form zu finden, die aus diesem Wissen schöpfte.

Gab es für den Schritt ins Dokumentarische Vorbilder oder gar Lehrer, Regisseure also, mit denen ihr persönlich Berührung hattet? Und war, wie bei Klaus Wildenhahn, das Direct Cinema ein Einfluss?
CH: An der Filmhochschule war es immer um komponierte Bilder gegangen, in der Hollywoodtradition. Die Kamera wie beim Direct Cinema vom Stativ zu nehmen, jemandem damit zu folgen, das war mir doch eher fremd. Was für eine Befreiung das sein und welche Qualität das haben kann, habe ich erst viel später registriert. Irgendwann sah ich Peter Nestlers „Warum ist Krieg?“, einen ganz einfachen, bescheidenen Dokumentarfilm. Er war für Kinder gemacht, erzählte aber allein mit Bildern und beeindruckte mich sehr stark. Vor allem aber faszinierten mich Einbrüche von Realität in Spielfilme. Beispielsweise wenn der damals politisch bedeutende Generalstaatsanwalt Fritz Bauer plötzlich in Alexander Kluges „Abschied von Gestern“ auftauchte. Oder das Gespräch zwischen Anna Karina und einem realen Philosophen [Brice Parain] in Godards „Vivre sa Vie“.

Zurück zum Ruhrgebiet. 1977/78 entsteht euer vierstündiger Dokumentarfilm „Die Lebensgeschichte des Bergarbeiters Alfons S.“. Was war die Motivation zu diesem Sujet, der Biografie eines Arbeiters, derart ausführlich zu arbeiten?
CH: Eigentlich entsteht ein Film bei uns fast immer aus einem vorherigen. Wie Gabriele erwähnt hat, stand nach „Huckinger März“ die Annäherung an den Alltag der Arbeiter im Mittelpunkt. Es folgte also „Vom Alltag einer Krise“, ein episodischer Film zur Arbeitslosigkeit, die Mitte der 70er Jahre zum ersten Mal nach dem Kriege wieder ein Problem wurde. Wir suchten nach einem Zeitzeugen, welcher die große Arbeitslosigkeit Ende der 20er Jahre miterlebt hatte.
GV: Wir fragten bei den Gewerkschaften nach. Es hieß, da gebe es jemanden in Castrop-Rauxel, das sei der einzige in diesen Kreisen, dem vor allem junge Menschen einen ganzen Abend lang zuhören wollten. Wir fuhren hin. Und in der Tat war dieser Alfons S. anders als alle die Alten, die wir bis dahin besucht hatten. Er guckte ganz anders auf Geschichte, redete nichts schön, besaß auch die erstaunliche Fähigkeit, manches noch aus der Perspektive des Kindseins erzählen zu können. Außerdem war er ein Anarchist, dem die zu einfachen Politikmodelle z. B. nicht passten. Ein wirklich selbständig denkender Mensch, weswegen er auch Schwierigkeiten mit den Funktionären der Gewerkschaften hatte.  
CH: Parallel zu dieser Begegnung hatte ich ein künstlerisches Modell vor Augen. Angeregt vor allem von dem Schriftsteller Sergej Tretjakov, der den Begriff des 'Bio-Interviews' für sich erfunden hatte. Was besagt: sich eine einzelne Biografie in ihren Alltagsaspekten ganz genau anschauen, weil darin der Alltag und die Geschichte eines Landes, einer ganzen Kultur sichtbar werden kann. Damit aber etwas sichtbar wird, muss man sich Zeit nehmen und ins Detail gehen. Mit diesem Hintergrund haben wir dann „Die Lebensgeschichte des Bergarbeiters Alfons S.“ begonnen. Aus vierzig Stunden Interviews wurden viereinhalb Stunden Film.

Hat euer Schritt, sich den Erfahrungswelten von Arbeitern zu nähern, auch etwas mit dem zu tun, was Pier Paolo Pasolini in den frühen 60ern gemacht hatte, als er in die Vorstädte, zum Subproletariat gegangen war. Er sah in diesen Armen die am wenigsten korrumpierte Klasse der italienischen Gesellschaft, schrieb über sie, filmte mit ihnen - und knüpfte Hoffnungen auf Veränderung der Gesellschaft an sie.
GV: Ich glaube, es waren immer die Menschen selbst, die uns anzogen, nicht unsere auf sie projizierten Hoffnungen. Wir fanden die Art faszinierend, wie die Arbeiter, die wir bei der Entstehung von „Huckinger März“ kennen lernten, mit ihren Erfahrungen umgingen, wie sie Geschichte sahen, schon gar wie sie mit dem Streikerfolg umgingen. Da gab es kein 'Hurra, wir haben gewonnen', sondern sie behielten sowohl die Vorgeschichte als auch das, was in der Gegenwart passierte, immer weiter im Auge. Zu entdecken, wie außergewöhnlich Leute mit einem solchen scheinbar einfachen Hintergrund oftmals sind.
CH: Es gab nach „Huckinger März“ Anfragen aus dem Gewerkschaftsumfeld, ob wir nicht Filme für die machen wollten. Dort zog man aber noch engere Grenzen als die Fernsehredakteure. 'Dies dürft ihr nicht zeigen, das muss aber dem Vorstand und auch dem Vorvorstand, dem Unterbezirk etc. vorgelegt werden' usw.! Weswegen wir uns davon dann doch eher fern hielten. Dennoch waren wir natürlich von den Zeiten bewegt, haben mit einem gewissen Pathos auf die gesellschaftlichen und politischen Alternativen gesetzt. Viele politisch Engagierte gingen damals in Betriebe, um dort Erfahrungen zu sammeln; sie fanden Realitäten, die anders aussahen als ihre Vorstellungen. Vielleicht steckt darin das Entscheidende: nicht nur auf ein politisches Konzept vertrauen, sondern hingehen, hinsehen, lernen.
 

Filme über Arbeiter und Arbeitswelten standen und stehen im Widerspruch zu allem, was im gebildeten Leben als poetisch betrachtet wird. Hat sich dieser Umstand auf die Rezeption von „…Alfons S.“ ausgewirkt?
GV: „Die Lebensgeschichte des Bergarbeiters Alfons S.“ stieß auf erstaunliches Interesse. Nicht nur wegen der radikalen Form. Ich denke auch, weil darin Erfahrungen artikuliert werden, in denen viele Menschen sich wiedergefunden haben. Und Alfons S. erzählt sie häufig in Form von Geschichten, sehr anschaulich und spannend, manchmal sogar in direkter Rede. Man war erstaunt über die erzählerischen Fähigkeiten dieses Mannes und über die ganz eigene Poesie, die darin zum Ausdruck kam. Christoph reiste auf Einladung des Goethe-Instituts mit dem Film nach Lateinamerika, ich in die USA und nach New York. Und selbst dort waren Leute von der Art bewegt, wie Alfons S. erzählt.
CH: Weil Alfons S. die ganze Zeit am Küchentisch sitzt und erzählt, sagten manche Leute, das sei kein Film, man könne so etwas allenfalls im Hörfunk machen. Dennoch wurden die Filme gerade wegen ihrer ungewöhnlichen Form doch wahrgenommen. Als „Huckinger März“, in einem sogenannten Informationsprogramm versteckt, auch in der DDR, in Leipzig lief, lernten wir bei der Gelegenheit auch Jürgen Böttcher und Volker Koepp kennen, denen unser Film wohl gefallen hatte.

Im Vorspann eures nächsten Projektes „Prosper/Ebel, Chronik einer Zeche und ihrer Siedlung“ heißt es, dieser Filmzyklus sei der „Versuch einer filmischen Alltagsgeschichtsschreibung“. Mit Geschichtsschreibung verbindet man üblicherweise die Historiker. Was hat es mit diesem Ansinnen auf sich?

Gabriele Voss und Christoph Hübner am ersten Drehtag Prosper / Ebel

CH: Mit Freunden zusammen gründeten wir das Ruhrfilmzentrum, und damit verbunden war dieses große Projekt. Es sollte erzählen über das, was das Ruhrgebiet groß gemacht hatte: der Bergbau und seine Geschichte. Wie macht man so etwas? Wir entschieden uns, von dem Leben, das sich um die Zechen herum, in den vom Bergbau angelegten Siedlungen, den so genannten Kolonien gebildet hatte, zu erzählen – und von der Geschichte einer Zeche. Wir recherchierten, wo es einen solchen Zusammenhang noch gab und kamen auf die 'Prosper' Zechen und die dazugehörige Siedlung Ebel in Bottrop.
Für mich ist einer der wertvollen Aspekte des Dokumentarfilms, dass er eben wirklich Dokumente schaffen kann. Die Idee des Bewahrens ist wichtiger als der jeweilige Zeitgeist. Wenn man sich überlegt, dass man heute Filme macht, die auch in fünfzig oder hundert Jahren noch gesehen werden sollen, dann habe ich den Wunsch, dass sie mir die Realität möglichst geduldig zeigen, so dass ich mehr und anderes sehen kann als Schnitte und Schnipsel. Und zweitens möchte ich die Realität so gezeigt bekommen, dass ich mir selbst eine Meinung bilden kann, die in fünfzig, hundert Jahren womöglich ganz anders als heute ausfallen wird. Die Filme müssen die Vielschichtigkeit der Realität enthalten, also formal etwas anderes sein als ein Meinungszuschnitt. Das meinen wir mit Alltagsgeschichtsschreibung. Dies erlaubt einen Blick auf das, was der Dokumentarfilm kann, befreit ihn auch von den Zwängen der jeweiligen Moden und der Verkaufbarkeit.  

Beschreibt dieser Ansatz einer Alltagsgeschichtsschreibung auch eine Gegenposition zum Geist des Films wie man ihn mit dem Namen Hollywood verbindet, wo man sich stets auf dramatische oder herausragende Momente fokussiert?
GV: Obwohl ich mich immer wieder mit Philosophie auseinandersetze, kommen unsere Filme nicht so sehr mit einem Konzept daher. Es gibt also keine dezidierte Haltung gegen Hollywood, zumal es in diesem Kino ja auch viele Alltagsaspekte gibt. Es war und ist eher die Neugier auf die Welt. Was auch der Untertitel des Prosper/Ebel Projekts ausdrückt: „Eine Reise ins Innere des Landes“. Andere verbinden mit dem Reisemotiv die Ferne, Afrika, wir aber die eigene Umgebung, in welcher man auch unbekannte Gebiete entdecken kann. Man denkt, man kennt das, was einen umgibt, muss aber feststellen, es ist überhaupt nicht der Fall. Diese erstaunliche Entdeckung hat uns angetrieben. 

Meine Frage bezieht sich eher auf Alfred Hitchcock, der sagt, dass eine Hausfrau im Kino keiner Hausfrau zusehen wolle.
GV: Das haben die Frauen von Ebel auch zu uns gesagt. Ein Teil des Zyklus handelt ja explizit von den Frauen in der Bergbausiedlung. Aber die fragten, wieso wir den Alltag von Frauen zeigen wollten, der sei doch bei jeder Frau auf der Welt gleich. Es hieß 'Wenn ihr zeigen wollt, wie wir leben, dann müsst ihr auch zeigen, wie wir denken, was in den Köpfen ist.' Danach war die zentrale Frage, was man mit Bildern erzählen kann und was mit der Sprache, auf die man doch stark angewiesen ist. Insofern hat Hitchcock sogar Recht. Man muss zu unserem Alltagskonzept schon sagen, dass es nicht um eine 1:1 Abbildung des Alltags geht. Man muss viel Zeit und Geduld mitbringen, um mitzubekommen, wann sich etwas zeigt und wann etwas nur gesagt werden kann.
CH: Aber wir machen schon den Versuch, das genaue, geduldige Hinsehen und die Dauer an die Stelle des Spektakels zu setzen. Das ist schon eine Art von alternativer Ästhetik zum Mainstream. Und ob eine derartige filmische Alltagsgeschichtsschreibung auf ein aktuelles Interesse stößt – das hängt dann vom Thema und zeitgeschichtlichen Umständen ab.
GV: Generell mag ich es nicht, in dieser abgrenzenden Weise zu sprechen. Wir sind unser Leben lang in amerikanische Filme gegangen, haben viele davon gemocht. Was wir machen, hat viel eher mit unserem Temperament zu tun. Wir sind eher episch als dramatisch veranlagt.
CH: Vielleicht noch etwas zum Thema Abgrenzung. Damals hieß 'politischer Film': nach Lateinamerika zu fahren, eine Kamera auf eine Straße zu stellen und zu sagen, wie sehr man dort vom amerikanischen Imperialismus unterdrückt sei. Warum eigentlich guckten die Filmer das eigene Land nicht genauer an? Die Verhältnisse mögen komplizierter sein als in Afrika, die Bilder nicht so bunt und exotisch, aber die Wirklichkeit und der Alltag des eigenen Landes haben uns immer viel stärker interessiert.

Nun konzentriert sich der Filmzyklus „Prosper/Ebel“ ja nicht allein auf das Alltagsleben, sondern auch auf eine konkrete Region. Ungefähr zur selben Zeit macht Edgar Reitz seine berühmte Serie „Heimat“, welche die Geschichte eines Dorfes im Hunsrück erzählt. Lag damals so etwas wie Hinwendung zur Region in der Luft?
CH: Ja, das Regionale wurde damals als Qualität entdeckt. Ich weiß gar nicht mehr genau, warum, ob es als Gegenbewegung zur beginnenden Globalisierung oder dem als abstrakt empfundenen Projekt der Europäischen Einigung gemeint war. Ich erinnere mich an die damaligen 'Römerberg-Gespräche' in Frankfurt. Es ging um den Zustand und die Vision des deutschen Films und es sollte eine Erklärung verabschiedet werden. Der Initiator dieser Erklärung war wie immer Alexander Kluge. Er kam auf mich zu, ob ich nicht einen Absatz über das Regionale in die Erklärung schreiben könne? Und so saß ich zwischen Schlöndorff, Kluge und anderen Größen und hatte auf einmal das Regionale zu vertreten.  
Die Rückbindung der Filmkünstler an die Lebensverhältnisse einer Region, das wurde dann tatsächlich eine quasi europäische Bewegung. Wir luden auch Regisseure aus Frankreich und England ins Ruhrgebiet ein und schauten uns deren Modelle von regionaler Filmarbeit genau an. In Deutschland wiederum wurde das 'Ruhrfilmzentrum' zum Modell auch für andere.

„Prosper/Ebel“ entstand um 1980 und ist in Schwarzweiß gedreht - in einer Zeit als die Farbe in Kino und Fernsehen etabliert ist. Was liegt dieser ästhetischen Entscheidung zugrunde?
CH: Ich fand damals, dass allzu viele Dokumentarfilme auf eine merkwürdige Art bunt waren. Anders als beim Spielfilm kann man den Leuten ja nicht sagen, macht mal eine andere Tapete in diesen Raum. Und so passten die verschiedenen Farbigkeiten der Einstellungen und Schauplätze in Dokumentarfilmen oft nicht zusammen, wirkten bunt und für mich unschön. Diese Beobachtung lag unserer ästhetischen Entscheidung fürs Schwarzweiß zu Grunde, in dem fast alle unsere Filme damals gedreht waren. Dazu sollte ein Großteil unseres Zyklus den Bergbau zeigen. Da das schwarzweiße Material empfindlicher war als das farbige, konnten wir Untertage mit wenig Licht drehen. Schwarzweiß gilt ja allgemein als grau und trist, was auch die Leute aus Ebel so empfanden. Darüber gab es mit ihnen viele heftige Diskussionen. Einige Passgagen des letzten Zyklusteils [„Prosper/Ebel – Inmitten von Deutschland“] drehten wir dann tatsächlich in Farbe, allerdings sehr gezielt und bewusst.

Kann man das auch als eine Art Wiedergutmachung gegenüber den Ebelern ansehen, die ihren Ort nicht allein in Schwarzweiß betrachtet wissen wollten?

Prosper / Ebel. Von Gabriele Voss und Christoph Hübner

CH: Wir traten mit dem Anspruch an, die Filme mit den Leuten vor Ort zu diskutieren. Wenn das mehr als eine rhetorische Attitüde ist, muss deren Kritik auch einen Einfluss haben können.  
GV: Mit dem Wort Wiedergutmachung bin ich nicht einverstanden. Wir haben uns den Leuten auch nicht angepasst. Wenn wir’s nicht eingesehen hätten, hätten wir’s auch nicht gemacht. Die Frage war, wo genau die Ebeler Recht haben, wo die Farbe etwas möglicherweise bislang Fehlendes ausdrücken könnte. Beispielsweise glänzten die Gärten in Ebel goldgelb. Sie in Farbe zu zeigen, drückte auch ein Lebensgefühl aus.

Ins Auge fällt die ungewöhnlich lange Drehzeit von über drei Jahren, die ja so gar nicht geplant war. Wie fiel die Reaktion der Sender aus, mit denen ihr gearbeitet habt? Gab es wegen der Dauer auch Krisenphasen?
GV: Richtig in Frage gestellt war das Projekt nicht wegen der Sender, sondern aufgrund von Reaktionen der Ebeler. Nach dem ersten Teil „Die vierte Generation“, der von Jugendlichen handelt, die in den Bergbau gehen, wollten einige Ebeler nicht weiter mitmachen, weil die von uns porträtierten Jugendlichen für den Ort in ihren Augen unvorteilhaft wirkten. Als wir dann den als nächstes geplanten Film [„Frauen-Leben“] angingen, wurde eingewendet, der Sendetermin läge viel zu früh, so schnell könne der Film nicht entstehen. Es ging um die Frauen. „Wenn wir ehrlich sein wollen, brauchen wir Zeit.“ sagten sie. Ich weiß noch, wie ich innerlich kämpfte. Wie sollten wir das der Redaktion der legendären WDR-Sendereihe „Schauplatz“ beibringen, die pünktlich senden wollte? Der Redakteur Hans Georg Ossenbach hat dann aber eingesehen, dass wir tatsächlich mehr Zeit brauchten und der Sendetermin wurde verschoben.

Das klingt sehr moderat. Ich stelle es mir als eine durchaus zermürbende Erfahrung vor. Weiß man während eines solchen Drehprozesses, wie es ausgehen wird?
CH: Unsere Idealvorstellung war ja, dass wir einige Zeit vor Ort leben, mit offenem Blick das, was uns dort begegnet, drehen und aus dem Material dann fünf Filme zusammenstellen und diese dann veröffentlichen. Für das Projekt gab es, auch wegen der neuen Fokussierung auf das Regionale, eine recht große Öffentlichkeit und ein entsprechendes Interesse. Und so bestand der WDR darauf, die Filme viel schneller zu senden als unser Plan es vorsah – und nicht im Zusammenhang. Das ZDF finanzierte auch mit, auch die Landeszentrale für politische Bildung und alle wollten ihren eigenen Film haben. Wir mussten den Kuchen also schon vor dem Backen aufteilen. Das war ein großer Einschnitt. Wir ließen uns notgedrungen darauf ein, mussten uns nun aber immer darauf konzentrieren, einen Film nach dem anderen sendefertig zu machen. Mit dieser anderen Zeitdynamik war ich gar nicht glücklich. Auch weil nun in dem zufällig zuerst gesendeten Einzelfilm der ganze Anspruch des Projektes gar nicht sichtbar werden konnte. 

Christoph Hübner im Gespräch mit den Ebelern

Die fundamentalen Fragen der Ebeler, wer nun repräsentativ für den Ort sei und wer nicht und die Auseinandersetzungen um das Bild des Ortes, die kamen dann hinzu. Umso betroffener waren wir aber. Ich fragte mich, ob ich wirklich unter den Bedingungen weiter filmen will. Man war so respektvoll und nah wie irgend möglich an die Menschen von Ebel herangetreten, hatte sich soweit es irgend ging für deren Wirklichkeit geöffnet, hatte sogar die Rohfassungen der Filme mit ihnen diskutiert – und dann gab es dennoch derartige Angriffe. Nicht so sehr gegen uns Filmemacher ging es, sondern vor allem gegen die Protagonisten, die Jugendlichen zum Beispiel. Die Familie von einem der Jugendlichen wurde nach der Fernsehausstrahlung von den Nachbarn regelrecht geschnitten.
GV: Wäre es nur zermürbend gewesen, hätten wir, abseits unserer unterschriebenen Verträge, wohl gesagt: Schluss! Wenn man fragt, warum wir drei Jahre mit diesem Projekt und solchen Auseinandersetzungen durchgehalten haben, muss es noch etwas anderes gegeben haben, etwas, das uns so anging, dass wir dabei blieben. Bei allem Schmerzhaften geschah doch etwas für unsere künftige Arbeit sehr Wichtiges. Es ging nicht darum, wer Recht hat, die Ebeler oder wir. Ich habe für mich entdeckt, dass sich in dem unterschiedlichen Blick auf die Wirklichkeit sehr viel mehr als nur eine andere Meinung verbirgt. Der andere Blick kommt aus einer anderen Lebenserfahrung. Und die wollten wir doch kennen lernen. Weglaufen war also keine Option und auch nicht der Kampf ums Rechthaben. Es ging darum, sich mit der Fremdheit der Anderen und mit der eigenen Fremdheit zu konfrontieren. Das ist für dokumentarisches Arbeiten etwas ganz Entscheidendes.
CH: Kein Film ist unschuldig. Er trifft auf eine Realität, die vorgeprägt ist. Die von uns aufgenommenen Leute leben an einem konkreten Ort und wollen dort auch bleiben. Und nach der Ausstrahlung zeigen die Nachbarn möglicherweise mit dem Finger auf einen. Dass mit der Veröffentlichung eines Filmes Verantwortung entsteht, ist uns bei „Prosper/Ebel“ deutlich bewusst geworden. Auch später, bei „Die Champions“ zum Beispiel, haben wir lange diskutiert, ob Bilder, die die jungen Fußballer oft ganz naiv von sich gaben, womöglich ihre Zukunft gefährden, ob wir sie drin lassen sollen oder nicht. Dazu gibt es auch unterschiedliche Haltungen. Ulrich Seidl etwa beantwortet diese Frage auf eine ganz andere Weise als wir es tun.
Man muss dazu auch sagen, dass der Zyklus ein kollektives Projekt gewesen ist. Nicht nur Gabriele und ich, sondern dazu drei weitere Filmemacher haben die einzelnen Teile in unterschiedlichen Zusammensetzungen begleitet. Der Film „Matte Wetter“ [Regie gemeinsam von Theo Janßen und Werner Ružička] kam als dritter Film des Zyklus. Er zeigt sehr genau die Arbeit Untertage, auch wie die Leute stolz sind darauf. Dass es so etwas wie Stolz auf die Arbeit gibt, auf das, was man kann, verstehen viele Leute von außerhalb nicht. Dokumentarfilme können Zuschauer ja wirklich an neuen Erfahrungen Anteil nehmen lassen. Und so gibt „Matte Wetter“ eine Erfahrung von der Welt untertage. Wenn man von Wiedergutmachung spricht, dann leistete sie vielleicht dieser Film. Weil er den Vorurteilen gegenüber den Bergarbeitern, nach denen diese nur Muskeln aber kein Hirn hätten, eine ganz andere Wirklichkeit entgegensetzt. Dieser Film hat die Luft für die noch folgenden gereinigt. Hätten wir ihn als ersten gemacht, wäre das ganze Projekt vielleicht einfacher verlaufen.
GV: Mehr als zuvor habe ich mich gefragt: Was prägt meinen Blick und was prägt den Blick derjenigen, die wir filmen? Und was zeigen wir, wenn wir einen Film dokumentarisch nennen? Zeigen wir den eigenen Blick? Zeigen wir den Blick der Anderen? Geht das überhaupt? Zeigen wir einen Dialog zwischen vielen Blicken, die eben von vielen unterschiedlichen Lebenserfahrungen herrühren?
CH: Man nimmt in die Arbeit immer den Gedanken mit hinein, dass das mein Blick auf jemanden ist, nicht der Blick schlechthin. Ebenso stark wie das Bild an der Wirklichkeit hängt, hängt es auch an meinem Interesse. Obwohl mittlerweile allgemein bekannt ist, dass ein Dokumentarfilm 'gemacht' ist, nehmen noch immer viel zu wenige wahr, dass das Autorenblicke sind.

Bei „Die Einwanderer“ kommt es euch darauf an, das Gemeinsame der Lebenswege und Schicksale jener zu zeigen, die einst aus Schlesien oder Polen hierher kamen und jener, die in jüngerer Zeit aus der Türkei einwanderten. Wobei mitunter, so bei dem ehemaligen Schlesier Herbert Jaskulla, ein deutliches Unbehagen gegenüber den Türken artikuliert wird. Wie wurde dieser Film von den Ebelern aufgenommen?

Prosper / Ebel. Von Gabriele Voss und Christoph Hübner

CH: Relativ positiv. Diese Parallelsetzung verschiedener Einwanderer-Generationen hat allerdings einige rechte Gruppierungen aufgeregt. Die Schlesier, meinten die, seien Deutsche, etwas ganz anderes als die Türken! Es wurden Stinkbomben in ein Kino geworfen.
GV: Schon der Titel „Die Einwanderer“ ging denen zu weit. Damit würden wir ja dokumentieren, dass die Türken hier blieben. Übrigens war in Ebel selbst niemandem wirklich klar, wer überhaupt ursprünglich deutsch war. Alle waren irgendwann zugewandert.
CH: Als wir Fotos aus verschiedenen Zeiten betrachteten, wunderten wir uns, wie sehr die Einwanderer aus verschiedenen Generationen sich gleichen. Bis hin zu den Kopftüchern. Frauen, die vor vielen Jahrzehnten aus Polen kamen, trugen lange schwarze Gewänder und Kopftücher; sie konnten zu großen Teilen auch nicht Deutsch sprechen. Zwischen den angestammten Bewohnern und den Einwanderern aus Polen hatte es heftige, auch gewaltsame Auseinandersetzungen gegeben.  
GV: Irgendwann aber akzeptierte man sich. Das Ruhrgebiet hat als große Industrieregion eine relativ kurze Geschichte und die ist als Ganzes eine Einwanderungsgeschichte. Deswegen geht man hier womöglich offener mit dieser Problematik um, leben die verschiedenen Einwanderer wirklich mehr oder minder nachbarschaftlich zusammen. Wir zeigten dies Zusammenleben also so angenehm, wie die Lebensrealität in Ebel tatsächlich war, was dann aber außerhalb des Ruhrgebiets wieder zu Kritik führte. Es hieß, wir würden alles zu positiv darstellen.

Gibt es die von euch festgehaltenen Problematiken heute noch in gleicher Weise?
GV: Wir waren erst vor kurzem wieder in Ebel und dort wurde uns berichtet, dass auf der Grundschule nun weitaus mehr türkische Kinder sind als damals, die meist noch schlechter Deutsch sprechen als damals. Was aber kein spezifisches Ebeler Problem, sondern überall anzutreffen ist. Auch dass sich die  Situation der türkischen Frauen, die damals am Ort ja sehr isoliert waren – der Film spielt in den 1980ern – eher noch verschärft hätte.
CH: Eine Zeitung berichtete neulich über eine Studie, die das Zusammenleben verschiedener Kulturen im Ruhrgebiet untersucht hatte Jemand hat ausgerechnet, das es 124 Kulturen sind. Man war zu dem Schluss gekommen, insgesamt funktioniere das Zusammenleben hier weitaus besser als in anderen Regionen.

Dass ein Film über weibliche Lebensentwürfe [„Frauen-Leben“] entstehen konnte – hat das allein Gabriele in den Zyklus eingebracht?
GV
: Ich erinnere mich, darüber habe ich auch im Filmtagebuch geschrieben, dass ich das sichere Gefühl hatte, wenn wir keinen eigenen Film über die Frauen in Ebel machen, kommen sie in der Reihe der Filme kaum vor. Allenfalls als Randfiguren, die für ihre Männer nach der Schicht das Essen bereithalten. Nicht aber als eigenständig handelnde und denkende Wesen

Einige Szenen in dem Zyklus, vor allem auch einige Szenen Untertage haben keinen Direktton. Was die Frage nach den Grenzen des Dokumentarischen aufwirft. Welche Situation rechtfertigt es, keinen Direktton zu nehmen – und wird der Dokumentarfilm dadurch nicht dem Spielfilm oder gar einem Hörspiel ähnlich?
CH: Was du sagst, trifft ja überwiegend auf den letzten Teil des Zyklus, auf den Film „Inmitten von Deutschland“ zu. Er war von vornherein als eine Art Zusammenfassung und Rückblick geplant, ist sozusagen am deutlichsten ein Autorenfilm. Nach unseren Erfahrungen mit den anderen Filmen, zogen wir uns für diesen letzten Film aus Ebel zurück. Wir brauchten Distanz, hatten nach drei Jahren äußerst genauen Hinschauens und Beobachtens auch das Gefühl, uns verschwimmt die Realität vor Augen. Das kennt man aus dem Alltag. Wenn man etwas sehr lange anguckt, wird der Gegenstand konturlos und man kann sich schwer orientieren. Wir wussten nicht mehr, was wichtig und was unwichtig ist, konnten nicht mehr unterscheiden zwischen unserem persönlichen Bezug zu Menschen und dem, was der Film über sie erzählt.
Auch formal wollten wir etwas anderes versuchen. Wir konnten all das nicht mehr in einen zusammenhängenden Blick integrieren, was wir in den drei Jahren von den Menschen erfahren hatten. Und so ist „Inmitten von Deutschland“ eine Montage aus lauter sich widersprechenden Einzelelementen. Eine Art Flirren, welches das dokumentarische 1:1 in Frage gestellt. Dies gilt auch für den Umgang mit dem Ton. Manchmal wird er weggenommen; manchmal war es ein Bedürfnis, Töne, die wir aus den drei Jahren noch im Ohr hatten – ein solcher Ort besteht ja auch aus Tönen – an bestimmten Stellen einzubringen. Gabriele hatte in all der Zeit richtiggehend Töne gesammelt. Damit haben wir versucht, so etwas wie ein dokumentarisches Tongemälde zu verfertigen.

Das bleibt für euch gleichwohl alles noch im Rahmen des Dokumentarischen.
GV: Wieso sollte der Dokumentarfilm durch den Direktton definiert sein? Im Verlauf unserer Arbeit hat sich das Bewusstsein für die Dimension Ton enorm geschärft. Ich arbeite sehr gerne mit Tönen, finde, sie erzählen Orte auf eine Weise, die man mit Bildern nicht einfangen kann. Ganz typisch für „Inmitten von Deutschland“ ist der Anfang, wenn inmitten der Einstellung von einer Autobahn ein Hahn kräht. Mein Gefühl war, dass der in dem kleinen Ort Ebel fortwährend kräht, aber wenn man dann die verdammte Autobahn aufnimmt, hört man ihn natürlich nicht. Hier kommt die berühmte Realismusfrage ins Spiel. Darf nur der mitlaufende Originalton als dokumentarisch gelten? Geht es nicht eher um das Gefühl, wie ein Ort klingt. Wäre das nicht zu dokumentieren? Im Fall von Ebel: das Ländliche inmitten von städtischem Gebiet. Das Hahnkrähen gehört zum Lebensgefühl der Ebeler. Um ihn zu hören, musste man das Krähen von allen anderen Tönen isolieren. Also habe ich am Hühnerstall eine Tongroßaufnahme gemacht und dieses später in der Montage zum Autobahnlärm hinzugefügt. Ist das nicht mehr dokumentarisch? Wir haben allerdings keine Töne aus dem Archiv verwendet, sondern die vor Ort gesammelten charakteristischen Töne.

Man kann an vielen Dokumentarfilmen der Gegenwart feststellen, dass sie insgeheim ein gewisses Ungenügen an der Realität, wie sie ist, ausdrücken. Schubweise wird immer noch etwas mehr Farbe, mehr Sound, mehr Drama hinzugefügt, man kann auch sagen, Realität wird vertrieben.
CH: In den 80ern, als es stark darum ging, was der Dokumentarfilm denn nun eigentlich ist, was er darf und was er nicht darf, schrieb ich einen Text mit dem Titel „Das Dokumentarische als Haltung“. Das Definieren der angeblichen Grenzen des Dokumentarischen hat mich etwas genervt, so entwarf ich für mich den Gedanken, der Dokumentarfilm sei in erster Linie eine Haltung. Sowohl eine ästhetische Haltung als auch eine Haltung gegenüber der Wirklichkeit. Wenn Gabriele sagt, der Direktton war für uns nie ein Dogma, dann ist das richtig. Doch wenn der Originalton in einer Szene genügt, dann kann und soll er auch für sich stehen dürfen. Ich nehme das was da ist, an. Darin steckt eine enorme Wertschätzung gegenüber der Realität, aber auch die Form hat eine Realität.
GV: Vielleicht sollte man es so formulieren: wir arbeiten nicht nur mit Synchronton. Die Loslösung vom Synchronton und der freiere Umgang mit den Tönen, die wir vor Ort finden, haben immer etwas mit Realitätserfahrungen zu tun.
CH: Dass der heute dominante Zug ist, alles zu Dramatisieren und zu Überhöhen, ist sicher richtig. Die Frage ist aber, ob es im Dokumentarischen einen zusätzlichen Reichtum geben kann, wie im Film „Inmitten von Deutschland“. Wenn man diesen Damm öffnet, muss ja deswegen nicht alles möglich sein. Einer Beliebigkeit würde ich nicht das Wort reden. Bei uns gibt es von Film zu Film ein Bedürfnis nach Erweitern, nach Ausprobieren. Bei „Anna Zeit Land“ probieren wir, was aus einer dokumentarischen Haltung heraus mit der Dimension der schauspielerischen Improvisation gehen mag. Womöglich unterscheidet sich unsere Arbeit dadurch von der andrer ausgemachter Stilisten, die sich immer an einer gleichen formalen Linie entlang bewegen. Dennoch sind unsere Filme ja eher zurückhaltend, demonstrieren nicht fortwährend ihren formalen Apparat und ihr Können.

Thomas Harlan - Wandersplitter. Von Gabriele Voss und Christoph Hübner

In dem Gespräch, dass ihr für euren Film „Dokumentarisch Arbeiten“ mit Klaus Wildenhahn geführt habt, sagt dieser, mit zunehmendem Alter habe er immer weniger den Anspruch, das ganze Bild zu erstellen. Seine Filme seien lediglich Bruchstücke, Teilstücke, Fragmente. Was Christoph mit dem Satz kommentiert, die einfache Form von Geschichten träfe die Wirklichkeit nicht mehr. Wie ist das ganz genau gemeint und siehst du das heute auch so?
CH: Zunehmend mehr. Vielleicht hat es wirklich mit dem Älterwerden zu tun, dass die Anzahl der Schichten, die ich in einer Realität wahrnehme, ständig zunimmt. Nicht allein die Realität, auch die Wahrnehmung wird komplexer. Getränkt von Erfahrungen und auch von dem, was man alles nicht weiß.
Der Titel unsres vorletzten Films „Thomas Harlan - Wandersplitter“ betont dieses Zusammengesetzte, von dem ich denke, dass es der Realität entspricht. Jetzt muss man aber, das sehe ich als die Aufgabe heutigen Erzählens an, diese Splitter nicht dem Zuschauer roh um die Ohren hauen, sondern eine entsprechende Form der Verbindung dafür finden. Obwohl das Rohe manchmal sogar das Beste ist. Man kommt mit einer gedrehten Szene, einer Aufnahme nach Hause und staunt, was alles da drin steckt - gerade in sogenannten Nebenhandlungen. Ein Bild besteht eben nicht nur darin, Transporteur einer Haupthandlung zu sein. Mit der neuen, hoch auflösenden Technik lässt sich dabei ungeheuer viel gleichzeitig aufnehmen. Was nicht nur das Flächige betrifft, sondern auch die Tiefe von Geschichten. Das wird die große Herausforderung einer künftigen Filmarbeit sein: mit diesem Wissen und dieser Technik Dinge neu zu erzählen.
Und zwar so wie unser spanischer Koch im Restaurant nebenan sagt: frische Küche! Möglichst die Dinge in ihrem Originalzustand sichtbar, schmeckbar zu belassen, sie nur soweit anzukochen und zu komponieren, bis sie genießbar sind und schmecken.

In „Prosper/Ebel“ ist vom Nicht-Objektiven des dokumentarischen Bildes die Rede. Doch wenn das Bild stets ein bloß subjektives ist, hätten die Theoretiker Recht, die behaupten, es gebe das Dokumentarische gar nicht. Wenn ein Bild subjektiv ist, was ist wahr an ihm?
CH: Im Grunde geht es immer um eine Form von Annäherung an die Wahrheit. Dabei sollte man den Weg des Zuschauers, ganz bescheiden formuliert, nicht verstellen, nicht zuviel davor und drum herum stellen, damit dieses Etwas von den Zuschauern auch gesehen werden kann. Ich denke mir den Dokumentarfilm als gleichsam spiralförmige Bewegung, in deren Verlauf man immer etwas näher an etwas herankommt, sich Zugänge eröffnet.
GV: Ich denke schon, dass es das Dokumentarische gibt. Nicht in dem Sinne von: die Welt ist so, wie sie mir fotografisch abgebildet vor Augen tritt. Eher in dem Sinne von: dem Abbild Raum und Zeit lassen, dass der Zuschauer auf seine Weise eintreten und eine Erfahrung machen kann. Dass etwas aufscheint von der Wirklichkeit außerhalb des gemachten Bildes und außerhalb des Bildermachers. Die Sicht des Autors ist nicht im Zentrum und zugleich ist sie es doch. Ein Paradox. Das Dokumentarische – eine Annäherung an etwas, das sich nicht greifen lässt, das sich dem Zugriff entzieht. Zugriff und Annäherung haben aber eine Richtung, die vom Autor weg weist. Zugleich kommen sie nicht von ihm los. Aber es gibt ein Mehr-oder-Weniger und das macht den Unterschied.

Gut, aber was unterscheidet ein dokumentarisches Filmbild substantiell von einem fiktiven Filmbild?
GV: Vielleicht kann das eine Keuner-Geschichte von Bert Brecht deutlich machen. Was tut Herr Keuner, wenn er einen Menschen liebt? Herr Keuner sagt: 'Ich mache einen Entwurf von ihm.' Dann wird er gefragt, wie er das macht? Ob er das Bild nach der Person formt, die er liebt? Das wäre dokumentarisch. Oder ob er die Person nach dem Bild formt, das er von ihr entworfen hat? Das wäre fiktiv. In beiden Fällen ist er der Schöpfer des Bildes, denn er formt es. Nur seine Anstrengung zielt jeweils auf etwas anderes.

Sergej Eisenstein hat einmal von einer „Montage der Anziehungen“ [auch: Montage der Attraktionen] gesprochen. Damit meinte er, dass das, was einem Schnitt im Film voran geht, das, was ihm folgt, herbeilocken soll und umgekehrt. Wie ist die Funktion der Montage in Euren Filmen?
GV: Die Erzählform unserer Filme entsteht aus dem intensiven Betrachten des Materials am Schneidetisch. Man kann nicht gegen das Material arbeiten. Von daher haben die Filme manchmal eine engere, manchmal aber auch keine narrative Struktur im klassischen Sinn. Immer haben sie aber etwas Episches, denke ich. Und das Epische unterscheidet sich nun gerade von Eisensteins „Montage der Attraktionen“. Wir legen es nicht darauf an, dass alle Einstellungen dramaturgisch und rhythmisch zwingend aufeinander folgen. Eher möchten wir die Einstellungen immer wieder von diesem Zwang der Abfolge befreien. Auch wenn man das Vorher und das Nachher wegschneidet, sollten sie noch etwas für sich sein und ein Eigenleben haben. Das ist nicht immer möglich. Der Fortgang der Erzählung entfaltet oft so einen Sog, dass er die Einstellungen mit sich fortreißt. In der Montage versuchen wir immer wieder, aus diesem Sog heraus zu treten. Das kann durch Brüche geschehen, aber auch durch Dauer, die wir den Einstellungen gewähren. In dem Sinne wie Christoph eben sagte: Die Wirklichkeit hat viele Schichten, sie ist komplex, brüchig, eher fragmentarisch als ein kontinuierlich strömender Fluss. 

Sowohl euer Zyklus „Prosper/Ebel“ als auch „Die Champions“ und „HalbZeit“ sind Langzeitbeobachtungen. Ihr habt viele Jahre mit den Menschen und Themen zugebracht, die Filme sind gewissermaßen langsam gewachsen. Alexander Kluge, nicht nur er, geht derzeit einen ganz anderen Weg. Er dreht einminütige Filme, sagt, in Zeiten des Internets, müsse der Film zu einfachen, 'robusten' Formen zurückkehren. Bei ihm hat jegliches Sujet also eine Minute Zeit, um sich zu vermitteln. Wie steht Ihr solcher Entwicklung zu minimalistischen Formen gegenüber?GV: Wir mögen durchaus auch kürzere Stücke. Wir arbeiten selbst im Moment an einem Projekt, das nennt sich „Emscher Skizzen“. In diesem Projekt sind inzwischen mehr als fünfzig kürzere oder längere Filme entstanden, zwischen zwei und zwanzig Minuten lang. Wir nennen diese Filme 'Skizzen', weil sie aus dem Moment entstehen. Wir versuchen auch, diesen Charakter des spontan Entstandenen, des Skizzenhaften in der Montage zu erhalten. Und auch in der späteren Präsentation eine angemessene Form dafür zu finden. Ich glaube allerdings nicht, dass sich jegliches Sujet in einer Minute erfassen lässt. In den von Kluge so genannten 'robusten' Formen habe ich eine Fülle von Wirklichkeitspartikeln vor mir, und ich stelle fest, auch bei den eigenen kürzeren Stücken, dass diese Form die andere Form, in der mir von Autoren mögliche Zusammenhänge von Wirklichkeit erzählt werden, nicht ersetzen kann. Ich stelle bei mir auch fest, dass ich auf die Erzählung von Autoren, die größere Bögen entwerfen, nicht verzichten mag. Das klingt jetzt sehr nach Literatur, ich meine aber auch Filmautoren, die im Kino Geschichten erzählen. Aus Kluges Einminütern baue ich mir selbst immer wieder einen Zusammenhang, den berühmten Film im Kopf des Zuschauers. Wenn ich aber nur das hätte, hätte ich auf die Dauer das Gefühl, nur im eigenen Saft zu schmoren. Die Entwürfe der anderen, ihren Blick auf größere Zusammenhänge in der Welt, ihre Erzählungen, wie die Dinge sich möglicherweise zueinander verhalten, brauche ich.

Die Champions. Von Gabriele Voss und Christoph Hübner

Klaus Wildenhahn sagt: 'Das oft trübe graue Licht im Ruhrgebiet, der viele Regen, das lässt ganz anders sehen, nicht so klar umrissen wie im Sonnenlicht.' Gibt es so was wie ein typisches Ruhrgebietsgefühl und wie würdet ihr es beschreiben?

CH: Wir drehen, wie gesagt, derzeit an einem Zyklus mit vielen kurzen Filmen, den „Emscher Skizzen“. Und wir staunen jedes Mal, wenn wir dabei an eine neue, uns unbekannte Ecke des Ruhrgebiets kommen. Eben noch hast du gedacht, du bist in Florida, dann begegnest du einem übrig gebliebenen Industriebau, dann einem Bauernhof, dann moderner Architektur. Diese zur Schau getragene Anarchie - das ist für mich das Ruhrgebietsgefühl. Demgegenüber ist das Sprechen vom Ruhrgebiet als Metropole gar nicht so interessant. Es gehört natürlich zusammen. Wir als von Außen Kommende haben es auch immer als Einheit wahrgenommen, aber gleichzeitig ist es viel mehr, nämlich dezentral, hat unheimlich viele und verschiedene Zentren. Ganz anders als z.B. Paris, wo ich weiß, ich bin in der Mitte.

Was löst das Wort Heimat bei euch aus?
GV: Ich entwickle Heimatgefühle nicht über Örtlichkeiten. Obwohl, wenn ich hier je wegginge, würde ich wohl den Fluss vermissen, der vor unserer Tür vorbei fließt. Heimat ist, wo ich mit Menschen zusammen die Dinge tun kann, die ich gerne tue. Was ich am Ruhrgebiet gegenüber den Erfahrungen in München und Hamburg schätzte, ist: die Szenen sind hier durchlässiger. Niemand, der einem ständig demonstrieren muss, er sei wer. Es gibt hier nicht diesen Dünkel, der dich in manchem Hamburger Stadtteil geradezu anspringt. Manche allerdings beklagen die fatale Bescheidenheit der Leute hier, dass die niemals sagen, wir sind wer.
CH: Gabriele ist hier in der Nähe geboren, ich bin ein Zugewanderter aus Heidelberg. Und bei den ersten Bergarbeitern hier war es so, dass sie zunächst jeden Sommer zurück nach Hause, nach Polen oder Schlesien fuhren, dann aber das Ruhrgebiet mehr und mehr Heimat wurde. Und auf einmal entstand das Gefühl, man möchte nie wieder weg. Zugleich hat sich das Ruhrgebiet in den dreißig Jahren, in denen wir hier sind, ungeheuer verändert. Wir befinden uns in einer Übergangszeit und diese Region muss sich andauernd neu erfinden. Manchmal geht das schief, manchmal dauert alles viel zu lang und nervt, weil es hier vielleicht noch langsamer als anderswo zugeht. Was wir andererseits mit manchen Schriftstellern gemein haben, ist, dass wir das Arbeiten außerhalb der Zentren und Szenen als angenehm empfinden. Dieses andauernde Reden über Film, vor allem über das Geschäft, empfinde ich als ermüdend. Wenn man Heimat mit einem Begriff von Arbeit zusammen bringt, dann bekommt sie auf einmal einen gewissen Glanz. Es ist eine immer wieder neu erarbeitete Heimat hier. 

Kommen wir zu euren jüngeren Filmen „Die Champions“ und „HalbZeit“. Was war der Antrieb für eine Annäherung an die Welt des Profifußballs? Hätte der Club, der die jungen Spieler beherbergt, irgendeiner sein können oder musste es einer aus dem Ruhrgebiet sein?
CH: Selbst wenn Leute es bei mir gar nicht vermuten – den Fußball trug ich lange als mögliches Thema mit mir herum. Weil er neben der Industrie und der Kultur eben auch wichtig für das Ruhrgebiet ist. Unser Sohn spielte eine Zeitlang bei einem kleinen Vorort-Verein. Und einmal beim Abholen nach dem Training kam mir plötzlich die Frage: 'Was wird eigentlich aus all den Fußballjugendlichen mit ihren großen Träumen einmal?' Das fand ich dann interessanter, als eine Geschichte über fertige Profifußballer zu erzählen.
Ob es ein anderer Verein hätte sein können als Borussia Dortmund? Am Beginn der Recherche hatte ich tatsächlich auch andere Clubs im Blick. Aber die Borussia ist mein Verein, ihr gehörte lange schon meine Sympathie. Es war ein großes Glück, das damals noch Ottmar Hitzfeld Manager des Vereins war, der das Projekt überzeugend fand und mir viele Türen öffnete. Zu der Zeit, Ende der 90er Jahre waren die Jugendmannschaften von Borussia Dortmund mit die erfolgreichsten in Deutschland; so waren sie zum Beispiel fünf Mal hintereinander deutscher A-Jugendmeister. Was Resultat einer gezielten Nachwuchsarbeit war.

Die Champions. Gabriele Voss und Christoph Hübner

In „Die Champions“ stehen vier, in „HalbZeit“ fünf Lebensläufe im Fokus. Man kann sich vorstellen, dass eine Menge mehr Material gedreht worden sein muss als man zu sehen bekommt. Nach welchen Kriterien entscheidet sich, wer in den Film kommt und wer nicht?GV: Tatsächlich sind Berge von Material entstanden. Bereits parallel zum Drehen fingen wir an, es zu organisieren, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie die Jungen sind, was sie gemeinsam haben und was sie unterscheidet. Wir fingen mit zwölf Jungen an, gingen relativ weit mit ihnen. Im Lauf der Zeit kristallisierten sich erst jene vier heraus, die nun im Film sind. Trotzdem drehten wir auch mit den anderen weiter, weil eine derartige Filmarbeit ein völlig offener Prozess ist. Man weiß einfach nicht, was wird, alles kann sich plötzlich wenden.
Zu all dem kommen natürlich auf der Hand liegende Kriterien dazu. Dass Francis Bugri so rasch aufstieg, in den Profikader von Borussia aufgenommen wurde – da hat man keine Wahl. Dass einer wie Heiko Hesse heftige Zweifel bekam und schließlich sogar aus dem Fußball ausstieg – auch an so einer äußerst spannenden Geschichte kann man nicht vorbeigehen. Ebenso nicht an Claudio Chavarria, der aus Chile kam, sich sehr schwer tat mit allem und dann aus dem Verein flog. Mohamed Abdulai aus Ghana repräsentiert einen Weg, den die Allermeisten gehen, die in den unteren Ligen landen.

Es gibt all die offiziellen und offensichtlichen Ereignisse: ein Spiel, das Training, Autogrammstunden, Feiern. Als Filmemacher, steht zu vermuten, hofft man aber wohl auf eine größere Nähe, auch auf Privatheit. Womöglich setzt ein Verein dafür Grenzen. Wie also betreibt man diese Suche nach 'filmdienlichen' Situationen?
CH: Bei „Die Champions“ gab es - im Unterschied jetzt zu „HalbZeit“ - den Vorteil, dass er zu großen Teilen im Jugendhaus von Borussia Dortmund spielt, wo die meisten der Nachwuchstalente des Vereins wohnten. Dort fuhr ich oft hin, ohne recht zu wissen, was passieren wird. Dass ich dort relativ frei drehen konnte, ist der außergewöhnlichen Offenheit des Vereins Borussia Dortmund zu danken. Und dann passiert vieles durch Zufall, durch Warten, durch Offensein für den Moment.
So war das auch mit dieser Geschichte mit Thomas Rositzky, den die Borussia für 25 Millionen einkaufte und der plötzlich auf die Position gesetzt wurde, auf die Francis Bugri sich große Hoffnungen gemacht hat. Ich habe das alles, den Vollzug der Vertragsverhandlungen, die Ankunft von Rositzky in Dortmund, die ersten Trainingseinheiten mit ihm, quasi mit durchlebt. Einmal sieht man im Film, wie Bugri und Rositzky auf dem Trainingsplatz gegeneinander spielen, der eine den anderen wegschubst. Kleinigkeiten, aber doch wiederum bezeichnende filmische Momente, die nur zustande kommen, weil ich immer wieder zugegen war, viel gewartet habe. So etwas wird nicht sichtbar, wenn man hingeht und gezielt ein paar Schnittbilder filmt oder ein Interview führt.
Es ist ja das Außergewöhnliche des Dokumentarfilms, dass er seine Geschichten vermittels allerkleinster Gesten und Szenen erzählen kann, durch Indirektes, zufällige Ereignisse, Dinge, die so in einem Spielfilm nicht oft vorkommen. Wenn man als Zuschauer dafür ein Gefühl entwickelt, beginnt man das Dokumentarische zu lieben. Jürgen Böttcher hat einmal gesagt: am Anfang sei man noch getrennt, dann begänne man mehr und mehr mitzuschwingen. Wie beim Tanzen, wo man zu Beginn noch am Rande der Tanzfläche steht, das Geschehen lediglich beobachtet, aber mit dem Fortschreiten des Abends immer mehr in die Mitte gerät. Und so etwas passiert vor allem bei Filmprojekten, bei denen man die Chance hat, lange dabei zu sein.

Musstest du diese Fähigkeit, warten zu können als künstlerische Methode erst erlernen, oder gehört dies schon immer zu deinen Charaktereigenschaften?
CH: Es gibt eine wichtige mit dem Dokumentarischen gemachte Erfahrung: wenn du gar keinen Plan hast und schon denkst 'was machen wir hier eigentlich, lass uns gehen', dann gerade passiert Überraschendes, passieren Sachen, auf die du gar nicht zugehen kannst. In meinem Text über „das Dokumentarische als Haltung“ findet sich eine Notiz über die Qualität der Pause. Die Pause ist ein Ort, an den alle wieder zu ihren Gedanken zurückkehren und der daher voller Möglichkeiten steckt. Man kann eine Pause entweder peinlich finden oder auch als eine Qualität ansehen, und danach kann es so oder auch so weitergehen. Ist man miteinander vertraut, muss man nicht jede Pause durch Worte zudecken, es ist auch eine Qualität, miteinander schweigen zu können. Was ebenso für das Warten gilt. Das heißt ja nicht blöd rum zu stehen, sondern es ist eine gespannte, mit vielen Gedanken erfüllte Aktivität.

James Benning hat mit seinem Film „Ruhr“ aus dem Warten und der extremen Dauer ein kinematographisches Erlebnis gemacht. Womit viele Leute allerdings große Probleme haben.
GV: Das ist schwer vergleichbar. James Bennings Film „Ruhr“ dauert zwei Stunden. Der erste Teil besteht aus sechs festen Einstellungen von jeweils etwa zehn Minuten, der zweite Teil besteht aus einer festen Einstellung von etwa sechzig Minuten. Da sieht man einen Kühlturm vor dunkler werdendem Himmel, aus dem ab und zu große Wasserdampfwolken hervorquellen. Man wird 'zum Schauen gezwungen' schreibt ein Kritiker, der dies zugleich 'eine großartige Zumutung' findet. Wenn das Gefühl des Zwangs aber überwiegt, wenn man sich in den Kinosessel gefesselt und die Augen fixiert fühlt auf wenige, starre Blicke, immer hoffend, dass etwas passiert, kann man das auch unerträglich finden. Diese extreme Fixierung des Körpers und der Augen auf minimal sich verändernde Blicke kommt im Alltag so nicht vor. Man muss sich beim Schauen extrem beherrschen und deshalb kann es auch als Erstarrung und Fesselung empfunden werden. Das, was Christoph beschrieben hat, meint für mich etwas Anderes. In der Montage äußert sich das als Konflikt zwischen einem freien Schauen, einem schweifenden, ungelenkten Blick mit seiner Eigenzeit, der Realzeit der gefilmten Momente und der Zeit, die als Erzählzeit in einem Film zur Verfügung steht. Damit hat Montage immer zu tun.

Zufall und Methode. Ist es denn schon gelungen, solche in der Realität staunen machenden Momente im Prozess des Schneidens eines Films zu erhalten?
GV: Nicht immer. Bei „Die Champions“ hätte ich mir noch viel mehr davon gewünscht. Da habe ich richtiggehend darum gekämpft, bestimmte Seitenblicke zu erhalten. Das war ganz schwer bei der Fülle des Materials und dem Druck der vorgegebenen Kinolänge.

In euren Interviews, erst recht in Gabrieles Büchern (etwa in der „Der zweite Blick“), wird häufig auf Literatur Bezug genommen. Hat die Literatur, wenn man so allgemein überhaupt sprechen kann, einen maßgeblichen Einfluss auf eure Ästhetik?
GV: Sie hat vielleicht Einfluss auf unsere Erzählweisen. Mich interessiert an der Literatur – neben der Geschichte selbst natürlich – wie sie Erzählbögen schafft, wie sie Geschichten baut, wie eng oder lose sie die Fäden verknüpft. Immer denke ich aber auch an die Unterschiede zu den Möglichkeiten des Erzählens im Film, denn man geht dort, was die Konkretheit, was Raum und Zeit betrifft, mit ganz anderen Dimensionen um als in der Literatur. Vergleichbares könnte ich auch für die Musik sagen. Wie werden Stücke in der Musik gebaut, wie werden dort Bögen geschaffen, Spannung, Entspannung, Dynamik etc. Diese Fragen sind für die eigene Arbeit immer anregend.

Mitunter leben die Fußballfilme ja von Blicken in sehr private Bereiche. Inwiefern sind Dokumentaristen Voyeure?
CH: Es ist gewiss ein Problem, und es begleitet einen auch andauernd: dieses Gefühl, das man als Dokumentarist von anderen Leben lebt. Aber es ist eine gemeinsame Arbeit, und wenn Menschen eine lange Strecke mit uns gegangen sind, dann merken sie auch mehr und mehr, was es eigentlich bedeutet einen Film zu machen. Dabei baut man ja sehr intensive Beziehungen auf. Weil man inzwischen geübt ist, verläuft das mitunter professionell, geht aber oft auch darüber hinaus. Zugleich können wir nicht mit allen die Intensität aus den Filmbeziehungen halten. Demgegenüber ist der Voyeur jemand Außenstehendes. Ich sehe zu, wie eine fremde Frau im Haus gegenüber sich auszieht – das ist der Voyeur. Mit den Menschen, mit denen wir filmen, haben wir aber sehr nahe und intensive Beziehungen. Wir haben sie sozusagen gefragt, ob sie sich ausziehen (um im Bild zu bleiben). Sie kennen uns. So gut, das man sagen kann, es handelt sich bei einem Dokumentarfilm um eine Art gemeinsamen Erzählens. Dabei entsteht gegenseitige Achtung und der Begriff des Voyeurs rückt ganz fern. Und manchmal geschieht es auch, dass ich geradezu übervoll bin mit dem Blick auf andere Leute. Es passt dann nichts mehr rein.

Wie bei einem Therapeuten, dessen Seele von den Problemen anderer belastet ist?
CH: Johann van der Keuken hat einmal wunderbar formuliert: 'Auf Wiedersehen, Du schöne Form.' Das sagt er am Schluss eines Films über Herman Slobbe, ein blindes Kind. Das bedeutet: Die Menschen mit denen wir zu tun haben, werden am Schneidetisch für uns zu Form. Diese Verwandlung finde ich etwas ganz Eigenartiges. Auf einmal ist das nicht mehr die Beziehung zu einem Menschen, sondern zu einer Filmfigur, einer Form, an der ich modelliere.

Es gibt derzeit ein enormes gesellschaftliches Bedürfnis nach Helden. Inwiefern werden nach euren Erfahrungen die jungen Fußballer in „Die Champions“ und „HalbZeit“ vom Publikum als solche wahrgenommen?
CH: Ich denke gerade an den Begriff des Idols. Das Idol ist ja von der Realität abgespalten, ist immer schon eine Konstruktion. So etwas bieten wir nicht an, verzichten auf das, was jemanden zum Idealbild macht. Stattdessen gibt es Zwischentöne, Grautöne, Dinge, die nicht immer zusammenpassen usw.
GV: Vielleicht muss man den Begriff des Helden auch neu definieren. Der Held bewältigt Schwierigkeiten, die ihm auf seinem Weg begegnen. Insofern sind unsere Fußballer auch Helden, nur stellt sich das Ganze in keiner Weise linear dar. Nicht etwa erwartete Siege sind zu bewältigen, sondern unerwartete Situationen. Und zwar ständig, weil diese Situationen eben zur Normalität gehören. So etwas wird in beiden Filmen ja breit aufgefächert. Wenn unsere Filme also Heldengeschichten sein sollten, dann erscheint der Held auf ganz andere Weise als man ihn sich landläufig denkt. Interessanterweise kommen nach den Filmen viele Leute zu uns, die sich tiefgreifende Gedanken darüber gemacht haben, was es eigentlich wirklich ausmacht: Gewinnen und Scheitern.

Eure Fußballfilme sind nebenbei auch Lehrstücke über moderne Ökonomie. Bei Claudio Chiavarra erlebt man, wie er die Erwartungen des Vereins nicht erfüllt und schließlich aus der hiesigen Fußballwelt ganz und gar rausfällt. Wie sind eure Erfahrungen: machen die jungen Spieler sich Illusionen über die Fußballwelt oder agieren sie schon früh als Geschäftsleute? Und fallen sie nach einem Scheitern weich oder gibt es zuweilen wirkliche Existenzprobleme?
CH: Sie kennen den Fußball als Auslesesystem gut. Schon in der B-Jugend, auch schon früher, ist man damit konfrontiert, dass der eine in die Mannschaft übernommen wird, ein anderer hingegen nicht. Und es wird ihnen immer wieder gesagt, Fußball sei ein hartes Geschäft. Trotzdem sagt Mohamed Abdulai an einigen Stellen des neuen Films: so hart habe ich es mir nicht vorgestellt. Die Fallhöhe hängt eben sehr von den Träumen ab. Hat jemand sich schon ganz oben gesehen, dann fällt er, wenn er nur in der dritten Liga spielt, sehr tief. Er kann aber, wie Mohamed Abdulai, mit einer solchen Existenz auch zufrieden sein. Für ihn z. B. sind kontinuierliche Verträge wichtig, weil sie ihm ermöglichen, Geld nach Hause zu schicken, nach Ghana.  
Sehr spannend finde ich, dass man über eine so lange Zeit verfolgen kann, was es eigentlich für Persönlichkeitsvoraussetzungen sind, die helfen, sich in diesem System durchzusetzen, überhaupt mit sich zurecht zu kommen. Das ist ein Subtext des Films.

Vor nunmehr zwei Jahrzehnten habt ihr „Menschen im Ruhrgebiet“ gedreht, eine Reihe von Portraits. Darunter eines des Bottroper Jazzmusikers Theo Jörgensmann oder der Gelsenkirchener Dichterin Ilse Kibgis. Christoph sagte einmal, diese Porträts hätten einiges mit den Fußballfilmen gemein. Wie genau war das gemeint?
CH: Es geht um Menschen, um dokumentarische Portraits von Menschen. Menschen in ihrem Alltag und an ihren Orten. Das sind die Stichworte unserer Arbeit: Menschen, Orte, Alltag. Vielleicht kann man die Kunst, die Künste noch hinzunehmen. Das ist immer wieder ein Korrektiv, wenn der Realismus, die Realität uns zu stark aufsaugt. Das ist auch das Thema der Reihe „Menschen im Ruhrgebiet“: dem Alltag die Kunst abtrotzen. Das sind allesamt Menschen, denen ihre Kunst, als Musiker, Maler, Dichterin, Instrumentenbauer, nicht in die Wiege gelegt wurde. Sie kommen alle aus einem Arbeiterhintergrund und haben ihre Passion für sich selbst gesucht und gefunden. Eigen-Art. Darin sind sie auch wieder typisch für das Ruhrgebiet. Individuelle, selbstgesuchte Lebenswege. Das interessiert mich mehr als die glatten, vorbestimmten Karrieren.

Beginnen diejenigen, die gefilmt werden auch die Kamera zu benutzen, den Film selber zu inszenieren?
CH: Heiko Hesse, einer der Protagonisten von „Die Champions“, hat mir mal erzählt, das Schöne an dem Projekt wäre, dass er sich dadurch selbst kennenlerne. Der Film sei für ihn wie ein extern geführtes Tagebuch. Wenn man sich für so etwas öffnet, dann ist ein Film ja ein Geschenk, ein Dokument, das davon kündet, wie man vor zwanzig oder vor fünf Jahren war, was man gemacht hat, wie man sich entwickelt. Von den Fußballern ist Heiko Hesse wohl derjenige, auf den am ehesten zutrifft, dass er es ganz bewusst auch für sich selbst nutzt.

Für den Zuschauer ist zumeist klar, was Thema eines Films ist, er setzt auch voraus, dass es den Machern immer klar gewesen ist, sie den Film in diesem Sinne geplant hätten. Ist das aber wirklich so? Ist das Thema bei einem Dokumentarfilm etwas, das von Anfang an da ist, oder ist es etwas, das sich beim Machen erst herausschält?
GV: Im Material stecken meistens mehrere Themen. Und die Art wie sich etwas herauskristallisiert, ist weitaus umfassender als es dann das sogenannte Thema ist. Das Schneiden ist der Vorgang, etwas herauszuarbeiten, aber das geschieht überhaupt nicht derart, dass ich aus fünf potentiellen Themen nun eines machen muss. Vielmehr bringt man etwas, das in Szenen mitschwingt zusammen mit dem Gefühl, mit dem man einen Film beginnt. Bei „Die Champions“ stand am Anfang die Frage nach den Träumen und deren Verwirklichung.
CH: Wir gehen ganz selten mit einem eng umgrenzten Thema an einen Film. Wie werden Jugendliche Profis, das ist es nicht. Der Dokumentarfilm, wie wir ihn verstehen, ist eher eine Art Versuchsanordnung. Wir haben bestimmte Szenerien, ein Interesse an bestimmten Menschen, was dann in einem Exposé beschrieben wird. Aber eigentlich sind es alles Fragmente, Einzelteile. Das Weitere ergibt sich: manches reagiert miteinander, manches zeigt auch keine Reaktion. Im Laufe der Arbeit entsteht dann eine Art Rhythmus, ähnlich wie in einem Musikstück. Schwer zu beschreiben, ein eher formales Gefühl. Wobei das Eigenartige ist: die Filme kehren, selbst wenn sie wirklich ausufern, zum Ursprung zurück. Sie sind dann gut, wenn sie dem entsprechen, was als Anfangsimpuls dagewesen ist.

Ihr habt noch nicht den Punkt der Wiederholung erreicht, an dem man sich bewusst wird, dass man eine Sache nun wer weiß wie oft gemacht hat und Überdruss sich einstellt?
CH: Nicht beim Drehen! Und nicht beim Schneiden! Allenfalls auf der geschäftlichen Seite des Ganzen. Um eine Finanzierung muss man ja jedes Mal aufs Neue kämpfen, sich in die Schlange der Markt-Verkäufer einreihen, wie Bert Brecht es nennt. Wobei man verdammt dazu ist, immer wieder mit Einzelwerken anzutreten. Das ermüdet zuweilen, so auch uns, die wir häufig an größeren Zyklen oder Langzeitbeobachtungen arbeiten. Es gibt ein sich entwickelndes Werk oder auch ein künstlerisches Bedürfnis nach Kontinuität und Zusammenhang. Das wird in unserem Finanzierungs- und Fördersystem kaum mehr wahrgenommen und das ist eine große strukturelle Schwäche unserer Filmkultur.