Interviews zum dfi-Symposium

"Die Tätigkeit an sich wird sich ändern, aber das Erzählerische und Kreative bleibt bestehen."
Der Medienproduzent und Dozent Prof. Michael Schwertel im Gespräch

Bis zum dfi-Symposium, das vom 12. bis 14. September stattfindet,  werden wir alle paar Tage ein weiteres Interview mit Referent*innen des Symposiums veröffentlichen. Heute veröffentlichen wir ein Interview mit Michael Schwertel.

Außerdem online sind Interviews mit der Regisseurin und Kamerafrau Mirjam Leuze, deren Film "The Whale and the Raven" gerade in den deutschen Kinos gestartet ist und ein Interview mit der Bildgestalterin Sophie Maintigneux, dem Filmemacher Rainer Komers, den Bildgestaltern Hajo SchomerusLuise Schröder und Johann Feindt und dem Filmproduzent Heino Deckert.

"Die Tätigkeit an sich wird sich ändern, aber das Erzählerische und Kreative bleibt bestehen."
Der Medienproduzent und Dozent Prof. Michael Schwertel im Gespräch

Sie beschäftigen sich intensiv mit allen digitalen Entwicklungen in den Bewegtbildformaten. Welches sind Ihrer Ansicht nach die gravierendsten Veränderungen und Entwicklungen in den kommenden Jahren für die Kameraarbeit von dokumentarischen Formaten im weitesten Sinne?

Innovationen werden die Kameraarbeit durch den Einsatz von 360 Grad, Stereoskopie, Bildbearbeitung etc.... mehr in den Schnitt hinein begleiten können und über den Dreh hinaus auch flexibler bleiben. Wie wir es in der Bildgestaltung vor einiger Zeit wegen Computern erlebt haben, wird die digitale Farbe nicht mehr trocknen und weiterhin formbar bleiben. Das wird so zum Beispiel durch 360 Grad-Kameras für die Perspektive auch in klassischen Formaten hilfreich sein. Konzepte und Vorüberlegungen werden weiterhin immer wichtiger werden und Technik wird dazu hilfreich zur Seite stehen.

In welche Bereiche wird sich das Einsatzgebiet der VR ausweiten? 

VR ist eine super Möglichkeit einen Ort zu erleben. Immer da, wo der Drehort eine besondere Rolle spielt, wird es möglich sein den Zuschauer dorthin zu „beamen“. Das kann in Zusatzmaterialien oder Apps eine neue Wahrnehmungsebene ermöglichen, bzw. eine neue Tiefe schaffen.

Welche Rolle spielt bei den VR-Produktionen überhaupt noch die von Menschen geführte Kamera?

Das ist eine sehr tiefgreifende Frage. Welche Rolle spielt die Kamerafrau/der Kameramann überhaupt? Die Aufgabe ist ja nicht nur die Perspektive zu wählen, sondern mit Bildern Geschichten, Emotionen oder Informationen zu vermitteln. Mit neuen Möglichkeiten kommen nur neue Aufgaben auf diese Kreativen zu. Die Tätigkeit an sich wird sich ändern, aber das Erzählerische und Kreative bleibt bestehen.

Sehen Sie die Notwendigkeit für Kameraleute zur weiteren Ausdifferenzierung und Spezialisierung – oder brauchen wir mehr Universalisten?

Ich denke persönlich, dass das Erlernen der Grundlagen (Lichtsetzung, Storytelling,...) schon umfassend genug ist. Eine Neugier auf neue Möglichkeiten und Experimentierfreude hilft dann schon ungemein, um sich weitere Möglichkeiten zu erschließen. Eine Annäherung an die eigenen Interessen sehe ich dann nicht als Spezialisierung, sondern als Möglichkeit die eigenen Visionen sehr individuell zu übermitteln.

Sie sagen „die Bilder werden unendlich durch Augmented Reality“ – was meinen Sie damit?

(Hab ich das gesagt? )Die Gestaltungen von AR-Räumen und Oberflächen sind sicherlich begrenzt, aber in Kombination mit realen Hintergründen werden diese „unendlich“ in der Vielfalt.

"Ich will nicht leugnen, dass es Kameraleute gibt, die den Film machen“
Der Filmproduzent Heino Deckert (ma.ja.de) im Gespräch

Ihre 1991 gegründete Produktionsfirma ma.ja.de arbeitet erfolgreich mit vielen internationalen Dokumentar-Regisseur*innen zusammen. Zusammen mit »Deckert Distribution« haben Sie außerdem einen eigenen Weltvertrieb für Dokumentarfilme und haben einen guten Überblick über den internationalen Dokumentarfilmmarkt: Was sind aus Ihrer Sicht die bedeutendsten Veränderungen in der dokumentarischen Bildgestaltung in den vergangenen 10-15 Jahren?

Nachdem bis vor ca. 5 Jahren das TV der größte bzw. der bedeutendste Geldgeber zur Finanzierung eines Projektes war, ist es jetzt immer mehr das Kino bzw. die Förderer. Der Anspruch an Kinoqualität wird dadurch höher….(Das gilt aber leider immer noch nur für Autorenfilme, schwieriger ist es nach wie vor beim „Themenfilm“.)

Welche Ansprüche bestehen Ihrer Meinung nach in internationaler Produktionen in Bezug auf die Bildgestaltung? Lässt sich das beschreiben?

Ein Film soll filmisch erzählt werden, d.h. nicht über Text oder Kommentar, sondern visuell. Wobei ich mir nicht sicher bin, ob der Unterschied zu früher nicht fast mehr auf der Tonebene stattfindet, der heute im Dokumentarfilm wesentlich aufwendiger gestaltet wird als früher. Hier machen sich die Budgetunterschiede auch deutlicher bemerkbar als beim Bild, zumindest vordergründig.

Begleiten Sie nicht nur Regisseur*innen sondern auch Kameraleute kontinuierlich in ihrer Laufbahn?

Das ergibt sich fast aus der Zusammenarbeit mit den gleichen Regisseuren/innen die mit den gleichen Kameraleuten zusammmenarbeiten, aber im Prinzip bringt die Regie ihren DOP mit.

Was ist für Sie besonders wichtig in der Kommunikation zwischen Regie und Kamera?

Dass sie über den gleichen Film sprechen

Wie viel Kontrolle hat die Bildgestaltung heute über die Bildproduktion? Zugespitzt gefragt - wer bestimmt heute das Bild?

Das hängt völlig von der Zusammenarbeit zwischen Kamera und Regie ab. Ich will nicht leugnen, dass es Kameraleute gibt, die den Film machen, aber das hängt heute wie früher von der Stärke der Regie ab.

"Die formalen Ausdrucksweisen des Dokumentarfilms haben sich enorm erweitert."
Der Bildgestalter Johann Feindt im Gespräch

Sie sind seit 1979 als Kameramann für Dokumentarfilme sowie für Film- und Fernsehproduktionen und als Regisseur und Autor von eigenen Dokumentarfilmen tätig. 
Ist die Kameraarbeit aufwändiger geworden, wenn ja – in welcher Hinsicht?

Schwer zu sagen. Die Arbeit ist anders geworden. Nicht besser, nicht schlechter, einfach anders. Aufwändiger? Ich weiß nicht.
Der Dreh, die große Reise ins Unbekannte, das Abenteuer, hat andere Formen angenommen. Da, wo formale Fragen oft während des Drehprozesses entstanden und gelöst werden mussten, gehen heute manche dieser Fragen in die Zeit der Vorbereitung. Weniger Hemdsärmeligkeit.

Die formalen Ausdrucksweisen des Dokumentarfilms haben sich enorm erweitert. In jede Richtung. Vielleicht finde ich nicht jede super, aber sie haben sich erweitert.

Parallel dazu gab es einen eindeutigen und schnell vollzogenen Einschnitt durch die Digitalisierung. Damit haben sich die Möglichkeiten und die Auswahl des Equipments erweitert (Drohnen, Gimbals, Mischen verschiedener Kameratypen, Einsatz von A- und B- und C-Kameras, was früher ökonomisch, aber nicht nur ökonomisch, undenkbar erschien.). Da wird der Raum des Träumens weiter.

Die Breite der Möglichkeiten verführt zum Spiel, im positiven wie im negativen. Das Abwägen wird wichtiger. Die Organisation und die Absprachen mit Regie und Produktion in der Vorbereitungsphase nehmen einen größeren Raum ein. Abwägen zwischen „nice to have“ und entstehenden Kosten. Und letztlich die Frage: Wo und wann entscheiden wir uns? Im Dreh oder im Schneideraum?

Und je mehr die Richtung zum Schneideraum geht, mit all denen, die dann mitreden, desto notwendiger nach wie vor, Entscheidungen vorher zu treffen. Mut zum Stil und Mut zur Auslassung. Ein Plädoyer für die Phantasie.

Worauf müssen sich Bildgestalter*innen stetig neu einstellen – zieht das Tempo der Veränderungen an?

Seit der Ablösung des Negativs und des Malteserkreuzes gibt es keine Standards mehr, die halten. Zu schnell die technische Entwicklung, zu stark der Druck der sie entwickelnden Konzerne nebst ihrer Abhängigkeiten. Das erhöht den Druck der schnellen Amortisierung. Eine 16mm-Kamera war auch nach zehn Jahren noch voll einsatzbereit. Das geht heute nicht mehr. Allein während der Dreharbeiten zum Film „Cahier Africain“ habe ich über die Jahre der Drehzeit vier Kamerasysteme benutzt.

Aber letztlich ist es doch egal: Ob i-phone, 4K oder 6 K, interessant bleibt, was vor der Kamera passiert. Das Equipment, das ich einsetze, muss gut sein für den Stoff und für mich. Es mag altmodisch klingen, aber wir dienen der Geschichte, dem Stoff und nicht unserer Eitelkeit.

Welchen Anforderungen von Seiten der Produktionen sehen Sie sich gegenüber? 

Da ich selten im formatierten Bereich arbeite, gab es bisher an mich keine direkten oder indirekten Auf- oder Anforderungen. Bisher war die Erarbeitung der Erzählform immer noch eine Auseinandersetzung zwischen Regie und Kamera.

Wie viel Kontrolle haben Sie – gerade in hochbudgetierten Produktionen wie etwa dem »Tatort« – über die Bildproduktion? Zugespitzt gefragt - wer bestimmt das Bild?

Bildproduktion. Super-Wort. Dahin soll es gehen. Nicht Künstler sondern Produktionsarbeiter. Auf der Stabliste nimmt Redaktion/ Produktion nebst allen aufgeführten und zurecht abgerechneten Mitarbeiter-Sternchen -Innen eineinhalb Seiten ein. Der Regiestab vielleicht eine halbe, der Kamerastab neben Licht und Bühne und DIT etwa ebenso viel. So verschieben sich die Dinge.

Aber Kontrolle direkt im Bildbereich?

In meinem Fall:

Nein. Nach Abnahme des Drehbuchs und Auswahl des Regisseurs erzählt die Regie und die Kamera. Und der Umgang mit dem Budget. Damit haben wir alle am meisten zu kämpfen. Das beschneidet, aber setzt auch Kreativität in Gang. Kleine Taschen- große Wünsche. Aber Big Brother habe ich nicht getroffen. Die Mechanismen sind sublimier und das meiste in diesem sehr fragilen Prozess hat die Regie abzufedern. Hut ab.

"Warum alleine im 'Haifischbecken' schwimmen, wenn man sich auch gemeinsam eine Insel bauen kann?"
Die Bildgestalterin Luise Schröder im Gespräch

Sie haben 2016 für Ihre Kameraarbeit in "Valentina" (Regie: M. Feldmann) den Michael-Ballhaus Preis bei den First Steps Awards erhalten. Schon vor Ende Ihres Studiums an der FH in Dortmund 2014 und seitdem haben Sie international viel gedreht, meist dokumentarisch. Mit welcher Arbeitswirklichkeit sehen Sie sich als Kamerafrau konfrontiert?

Ich liebe den Beruf der Bildgestalterin und kann mir nichts anderes vorstellen. Dennoch sehe ich als freischaffende Kamerafrau eine große Herausforderung darin, einen langen "Atem" zu behalten. Den braucht man, um in diesem Beruf arbeiten zu können, Dreh- bzw. Projektlöcher auch mal aushalten zu können und sich gleichzeitig die Leidenschaft zu erhalten. Noch vor Ende meines Studiums in Dortmund habe ich gemeinsam mit neun anderen ehemaligen Studienkollegen*innen der FH-Dortmund und der Filmakademie Ludwigsburg ein Filmkollektivbüro in Berlin gegründet. Warum alleine im 'Haifischbecken' schwimmen, wenn man sich auch gemeinsam eine Insel bauen kann? Wir haben uns auf diese Weise gemeinsam ein erstes Netzwerk geschaffen.

Hier unterstützen und inspirieren wir uns gegenseitig und nicht selten arbeiten wir an gemeinsamen Projekten. Beispielsweise habe ich mit meinem Kollektiv-Kollegen, dem Regisseur Aljoscha Hofmann, drei 45 minütige Folgen für das dokumentarische ZDF Format 37° umgesetzt. Das waren für mich als angehende Kamerafrau wichtige Schritte ins Berufsleben und zugleich Türöffner für den freien Markt. Der Michael-Ballhaus Kamerapreis, den ich 2016 für meinen Diplomfilm "Valentina" bei den First-Steps Awards erhielt, war außerdem eine tolle öffentliche Anerkennung, die mir sicherlich geholfen hat, mein Netzwerk zu erweitern.

Worauf müssen sich Bildgestalter*innen stetig neu einstellen – zieht das Tempo der Veränderungen an?

Gerade im technischen Bereich zieht das Tempo der Veränderungen an – man ist nicht nur Bildgestalter*in sondern auch gleichzeitig Techniker*in. Als Kameramensch für den Dokumentarfilm hat man während des Drehs keine große Technik-Crew hinter sich wie im Spielfilmbereich. Oftmals ist man ganz auf sich selbst gestellt. Deshalb muss man darauf achten, dass man technisch auf dem neusten Stand bleibt. Das heißt, sich immer wieder mit neuen Kamera- und Lichttechniken auf dem Markt auseinanderzusetzen und sich mit Kamerakollegen*innen auszutauschen. Trotzdem geht der Trend weiter dahin, dass wir Kameraleute diese neue zusätzliche Technik natürlich auch bedienen müssen. Ich hoffe für die Zukunft, dass wir nicht nur noch Techniker*innen sind, sondern Bildgestalter*innen bleiben. Der Einsatz von Technik sollte meiner Meinung nach immer die Filmsprache unterstützen, inhaltlich wie visuell motiviert sein und nicht blind einem Trend folgen.

Die Anschaffung einer eigenen Kamera und die dazugehörige Technik, die ich 2015 zusammen mit einem befreundeten Kamerakollegen aus unserem Kollektiv gemacht habe, war eine wichtige Entscheidung. Das ermöglicht uns, unabhängiger von Verleihern zu sein und ist für Produktionsfirmen nicht selten uninteressant. Es ist für mich einer der wesentlichen positiven Faktoren der digitalen Veränderung und Entwicklung – früher bestand nicht wirklich die Möglichkeit, sich als Kameramensch eine eigene Kamera zu kaufen, da diese sehr kostspielig waren.

Wofür bekommen Sie Angebote – ist das breit aufgestellt – oder wird man tendenziell für ähnliche Themen und Bildgebungen angefragt?

Anfragen als Kamerafrau bekomme häufig aufgrund meines Reels, das eine breite Facette an visuellen Arbeiten für Dokumentar-, Kurz- und Werbefilmproduktionen bis hin zu Musikvideos zeigt. Bei Dokumentarfilmen sind die Themen meist sehr unterschiedlich.

Ich habe das Gefühl, ich werde oft für lange Dokumentarfilme angefragt, die nah an den Protagonisten sind. Vielleicht auch wo ich ein Stück weit erzählerische Selbstverantwortung mit der Kamera übernehme, was ich sehr mag. Es gibt zum Beispiel Drehsituationen im Dokumentarfilm, in denen man sich nicht mit der Regie absprechen kann, was und wie gerade gedreht werden soll. Hier muss ich als Kamerafrau selbst entscheiden, auf was ich den Fokus lege. Das setzt voraus, dass die Regie mir blind vertrauen kann. Dazu gehört aber auch, dass ich mich schon früh und intensiv inhaltlich mit dem Projekt auseinandersetze. Was die Bildgebungen angeht, glaube ich, dass jeder Film eine individuelle Bildsprache erfordert.

Ihre Filme zeugen bereits von einer deutlichen Handschrift z.B. in dem Film "Valentina" – wohin tendieren Sie in Ihrer Arbeit – wohin zieht es Sie?

Für mich ist jeder Film eine Reise in eine neue Welt und ich versuche ihm eine eigene künstlerische Handschrift zu geben. Meine Leidenschaft ist es, experimentierfreudig die Realität zu sehen und ungewohnte Perspektiven einzunehmen – ohne Grenzen und formalen Regeln. Ich entdecke immer wieder, dass mich ungewohnte Bildausschnitte anziehen und ich viel Wert auf die Kadrage eines Bildes lege. Eigenschaften wie Sensibilität, Spontaneität und Flexibilität sind unerlässlich, wenn ich in Realitäten anderer Menschen eintauche. Vor allem beim Dokumentarfilm steht für mich die Nähe zu den Protagonisten im Vordergrund – das bedeutet für mich nie die Gefilmten auszustellen oder vorzuführen.

Bei dem Dokumentarfilm "Valentina" haben der Regisseur Maximilian Feldmann und ich uns vorgenommen, „anders“ zu betrachten. So haben wir bereits vor dem Dreh die Entscheidungen für unterschiedliche filmische Mittel getroffen, wie z.B. den Einsatz des Schwarz-Weiß Filters oder die Kamera immer auf Augenhöhe mit den Protagonisten zu bringen (was nicht immer ganz leicht war, weil das Leben sich meistens auf dem Boden abspielte). Worauf ich sehr stolz bin: Mit unserem speziell angefertigten Schwarz-Weiß-Filter und der eingesetzten Filmkörnung erkennt man den digitalen Ursprung des Materials kaum wieder. Visuell besonders spannend fand ich es, die Perspektive Valentinas mit der Kamera einzunehmen und dem Betrachter spielerisch und poetisch ihre Gefühlswelt näher zu bringen. Ohne den zeitintensiven Annäherungsprozess an die Protagonisten wäre "Valentina" nicht möglich gewesen. Leider ist das bei vielen Projekten mit abgezählten Drehtagen und festgesetztem Budget oft nicht möglich - was ich sehr bedaure. Ich kämpfe immer wieder für genau diese Zeit und bin meistens schon während der Recherche dabei. Wie auch gerade bei dem neuen Feature Dokumentarfilm "Tech-Pets" von Madeleine Dallmeyer. Hier wird für mich die größte Herausforderung darin bestehen, nicht die gewohnte Perspektive von Menschen einzunehmen, sondern die von Tieren. Ich bin sehr gespannt darauf, wie diese Reise verläuft!

"Wir werden noch lange gebraucht werden!"
Der Bildgestalter und Professor für Kamera Hajo Schomerus im Gespräch

Sie moderieren zwei Panels mit Fragen zur Arbeitswirklichkeit heutiger Kameraarbeit. Wie hat sich für Sie die Arbeitswirklichkeit für Kameraleute in den letzten 10 – 15 Jahren verändert? Was sind für Sie die wichtigsten Felder?

In erster Linie hat sich die Arbeitswirklichkeit für Kameraleute sehr dynamisiert – da gehen die technische Entwicklung und die dramaturgischen, erzählerischen Veränderungen der letzten Jahre Hand in Hand. Die Erwartungen sind hoch – die ästhetischen Vorbilder und kinematografischen Möglichkeiten sind omnipräsent und überall abrufbar. Wer bei Google „spektakuläre Totale der Hebriden bei Vollmond“ eingibt, bekommt sofort unglaubliche Referenzbilder – an denen ich mich mit meinen Bildern messen lassen muss. Gleichzeitig haben sich die Zuschauer an hochverdichtetes, dramaturgisch komplexes Erzählen gewöhnt – das gilt auch für den Dokumentarfilm, von dem oft ein fast fiktionalisiertes storytelling erwartet wird. Die Ansprüche sind gestiegen, ohne dass sich das unbedingt in den Produktionsbedingungen widerspiegelt.

Kameraleute müssen heutzutage – genau wie Regisseure – ein starkes Rückgrat haben, um sich in diesem Spannungsfeld von technischem Anspruch, ästhetischen Vorbildern und eigener erzählerischer Idee durchzusetzen.

Sie lehren auch nonfiktionale und fiktionale Kamera an der ifs in Köln. Auf welchen Arbeitsmarkt bereiten Sie Ihre Student*innen vor? Wie divers ist das Arbeitsfeld Kamera/Bildgestaltung heute?

In der Tat ist es schwer, von einem Arbeitsmarkt zu sprechen – die Bandbreite von Produktionsbedingungen ist groß. Das gilt für den Spielfilm genauso wie für den Dokumentarfilm. Das Studium an der ifs soll darum die Student/-innen vor allem in ihrer Eigenverantwortung stärken – sie sollen in der Lage sein, ihre Filme erst einmal unabhängig von produktionellen und technischen Zwängen zu konzipieren und zu formulieren. Sie müssen einen Stoff, ein Thema oder auch eine Geschichte verstehen und lesen können und eine filmische Umsetzung finden. Dann wird sich herausstellen, wie der Film entstehen kann: mit 4 Gopros zu zweit oder im Studio mit einem Team von 40 Leuten.

Die jeweils nötige Technik müssen sie sich erarbeiten können – es ist ja jetzt schon fast unmöglich, vorherzusagen, welche Möglichkeiten es nächstes Jahr geben wird. Aber es ist ja auch so, dass nicht alle Filme immer mit der neuesten Technik entstehen – viele Produktionsfirmen haben irgendwann in den letzten Jahren in eigene Technik investiert, da wird natürlich erwartet, mit diesem Equipment zu arbeiten. Die Student/-innen an der ifs sollen Equipment als notwendiges Werkzeug verstehen und nicht als Selbstzweck – in meinem Verständnis ist Bildgestaltung ein erzählerischer und kein technischer Beruf. Das erwartet auch der Arbeitsmarkt von unseren Absolvent/-innen: sie sollen inhaltlich mitreden können.

Müssen sich Bildgestalter*innen stetig neu einstellen – zieht das Tempo der Veränderungen immer mehr an?

Zum einen sind es die technischen Entwicklungen, die tatsächlich eine ziemliche Triebkraft haben – bei der Aufnahme und auch in der Postproduktion. Bildgestalter/-innen können und müssen die Möglichkeiten der digitalen Nachbearbeitung mitdenken und kommunizieren können.

Ich empfinde aber die erzählerischen Entwicklungen als deutlich galoppierender: zum Glück hat sich eine reiche Formenvielfalt gerade auch im Dokumentarfilm entwickelt – aber die Erzählweisen ändern sich rasant; serielles Erzählen, wie es im Moment sowohl fiktional als auch dokumentarisch en vogue ist, bestimmt gerade den Stil – aber sicherlich werden wir in der nächsten Zeit auch wieder andere Entwicklungen beobachten.

Wie gut können junge Kameramenschen heute noch eine eigene Handschrift entwickeln?

Gerade weil sich der Anspruch an Kameraarbeit im steten Wandel befindet und auch sehr dem Zeitgeist unterworfen ist, ist es umso wichtiger, seine eigene Handschrift zu entwickeln – ich glaube auch, dass das wahrgenommen wird. Kunst ist ja sowieso in steter Bewegung. Und, das ist mir eigentlich am Wichtigsten: wir Kameraleute zeichnen das Bild, wie wir uns als Gesellschaft sehen, wir prägen sozusagen das Narrativ. Da ist es um so notwendiger, einen eigenen, klaren, differenzierten Blick zu haben, einen Standpunkt. Die Art und Weise, wie wir Geschichten erzählen, bestimmt auch, welche Geschichten wir erzählen. Und da brauchen wir ganz klar im Moment genaue, differenzierte Dramaturgien. Auch im Film darf Populismus nicht gewinnen.

In Zeiten von menschenfreien Aufnahmesettings – wie sehen Sie die Zukunft in der Bildgestaltung durch Kameraleute?

Ich glaube, wir werden noch lange gebraucht werden!

"Fortbewegung von A nach B und weiter nach C, nicht stehen, nicht stecken bleiben, das ist die Lösung. Das Vorbereitete und das Zufällige kombinieren:"
Der Filmemacher Rainer Komers im Gespräch

Als Autorenkameramann schauen Sie auf einen der längsten Schaffenszeiträume unter den Dokumentarfilmemacher*innen Deutschlands zurück seit sie 1975 mit "2211 Büttel" Ihren ersten Dokumentarfilm gemacht haben. Haben Sie für jeden Ihrer Filme eine jeweils eigene Bildsprache entwickelt?

Die Bildsprache hängt u. a. ab von den jeweiligen Produktionsbedingungen. "2211 Büttel" (1975) und "Zigeuner in Duisburg" (1980) habe ich überwiegend mit der Bolex gedreht und hatte nur an einem Tag eine geblimpte ARRI zur Verfügung – also kleines Drehverhältnis, wenig O-Ton, keine ausführlichen Beobachtungen, stattdessen poetisch verdichtete Bilderfolgen, die mit dem Geschehen und den Off-Tönen korrespondieren. 

Bei meinem WDR-Auftragsfilm "480 Tonnen bis Viertel vor zehn" (1981) hatte ich erstmals ein Budget, das es mir erlaubte, die Kamera laufen zu lassen: direct cinema, 16 mm Handkamera, schwarz-weiß – zwei Wochen bei den Hafenarbeitern in Duisburg-Hochfeld. An Land, auf dem Waggon, auf dem Kran, im Schiff, im Pausenraum bei den Spinden, während und nach der Schicht; reines Dabeisein und Beobachten der Arbeit, der Pausen.

Mit dem WDR-Film "Ein Schloss für alle", der das Leben im Schloss Styrum und im Moritzstraßenviertel an der Ruhr schildert, verfestigte sich der Wunsch, das Feld des dialoglastigen, sozialdokumentarischen Films zu verlassen und nach einer rein audiovisuellen Form dokumentarischen Erzählens zu suchen.

Die Eingebung: Soundscape und Lumière zusammen, pure Kinematografie: bewegte Materie = Bewegtbild + Geräusch (spezifisch, rhythmisch, kein Geräuschbrei).
Die Methode war da, ein Motiv, eine Location musste her; und nicht länger an einem Ort bleiben, wie bei den Kruppianern in Duisburg-Rheinhausen mit einer Drehzeit von 18 Monaten. Eine Straße, an der man sich entlangbewegt, -guckt und -hört und zeigt, was sich dort zu beiden Seiten tut, wovon die Leute leben, wie sie ihre Freizeit verbringen. Fortbewegung von A nach B und weiter nach C, nicht stehen, nicht stecken bleiben. Das Vorbereitete und das Zufällige kombinieren: "Grand Trunk Road" in Indien, "Nome Road System" in Alaska und "B 224" vor der Haustür – die Straßen-Trilogie "ErdBewegung". Ein Nomadisieren, das rundum befreit, aber auch Gefahren birgt: der Beliebigkeit, der Flüchtigkeit, des touristischen Blicks – und dass es sich irgendwann wiederholt, erschöpft. Der angestrebte Mehrwert: Dass eine Komposition von Bewegtbild und Klang, rein sinnlich rezipiert wie ein Musikstück, sich so – das ist die Hoffnung – weniger schnell verbraucht als eine mit Protagonisten und Dialogen gebaute Narration.

Wie würden Sie die Elemente einer Bildsprache beschreiben?

Material sammeln und Montieren bzw. Collagieren. Ersteres unterliegt auch den Drehbedingungen. Bei "B 224" und "Kobe" musste ich schon wegen der vielen Drehgenehmigungen, die eingeholt werden mussten, die Orte vorbesichtigen, Drehtermine vereinbaren und deshalb einen Plan im Voraus machen. Bei "Nome" und "Barstow" konnte ich die Schauplätze (ohne Vorbesichtigung) erst während der Dreharbeiten klar machen, musste/konnte/durfte von Tag zu Tag improvisieren und auf den kalkulierten Zufall bauen. 

Sie haben auch immer wieder die technischen Filmformate gewechselt – zum Beispiel wurden die Teile der Trilogie "ErdBewegung" alle in unterschiedlichen Formaten gedreht. Welche visuellen Aspekte stehen bei dieser Auswahl auch im Vordergrund (außer den finanziellen)? 

Der erste Teil von "ErdBewegung" handelt von einem hochindustrialisierten Landstrich in Deutschland und von der Bundesstraße "B 224". Sie beginnt an den Kiesgruben im Münsterland, führt weiter durch das Ruhrgebiet und endet im Bergischen in der Messerstadt Solingen. Industriearchitektur und mechanische Prozesse bestimmen das Bild und geben den Ton an. Trotz hoher Bevölkerungsdichte bleibt der Mensch in diesem von Ingenieurskunst geprägten Umfeld eine optisch-akustische Randerscheinung. Vertikalen, Horizontalen und Diagonalen strukturieren den Raum. Um diesen Raum mit seinen vielfältigen Details optisch zu ‚vermessen’, filmte ich vom Stativ mit Festoptiken und wählte ein hochauflösendes Breitwandformat. Deshalb, und weil "ErdBewegung" ein Kinofilm ist, und last but not least wegen des Stereotons entschied ich mich für 35mm Film.

"Nome Road System", der zweite Teil des Projekts, handelt von einer arktischen, kaum industrialisierten und nur dünn besiedelten Region. Touristisches und städtisches Leben in Nome, Goldgräber und Eskimos, Jäger, Fischer und wilde Tiere an der Küste und in der grenzenlosen, baumlosen Tundra bestimmen das Bild und geben den Ton an. Für die weite Landschaft und das Meer wählte ich wieder die hohe Auflösung und Raumtiefe des Filmmaterials. Um bei Märschen durch das Gelände das Gewicht gering zu halten und um Bewegungsabläufe mit der Schulterkamera verfolgen zu können, drehte ich in Nome mit einer Arri Super 16 (mit Zoomobjektiv, Festoptiken und anschließendem Blow-up auf 35mm).

"NH 2 (National Highway 2 oder auch Grand Trunk Road)", der letzte Teil von "ErdBewegung", wurde in teils agrarischen, teils industrialisierten Gebieten Nordindiens realisiert. Der Principal Highway wurde 2002 ausgebaut zu einer modernen vierspurigen Schnellstraße, die das "indische Ruhrgebiet" mit seinen Kohlegruben und Stahlwerken durchquert. Die vielen Menschen unterwegs und ihre Bewegungen bestimmen das Bild und geben den Ton an. Die Gangesebene zwischen Howrah bei Kolkata, wo die "NH 2" beginnt, und Varanasi, wo sie im Film endet, ist landschaftlich wenig reizvoll und abwechslungsreich. Deshalb konnte hier auf ein hochauflösendes Filmmaterial verzichtet werden. Um Dynamik und Rhythmus von Menschen, Tieren, Maschinen und Fahrzeugen entlang der GT Road aus großer Nähe zu erfassen, und um angesichts des dichten Verkehrs und der klimatischen Bedingungen vor Ort den logistischen Aufwand zu minimieren, drehte ich auf DVCAM mit anschließendem Transfer auf 35mm. (...) Die Entscheidung, die Formate zu wechseln, hatte vor allem den Grund, jedem der Teile seine spezifische Bildsprache und Charakteristik zu geben. Siehe Interview zu 35mm - Super16 und DV.

Sie haben auch als Kameramann für viele andere Autor*innen gearbeitet. Wie ist für Sie – im Gegensatz zur eigenen Autorenschaft – der Prozess, die Ideen eines anderen Menschen visuell umzusetzen?

Bei der reinen Kamera-Arbeit genieße ich es in der Regel, nicht die Last der Autorenschaft und die Verantwortung für das Ganze tragen zu müssen, sondern mich allein auf das konzentrieren zu können, was ich beim Film am liebsten mache, das Drehen. Ideal ist, wenn es dabei zu einer (nonverbalen) Komplizenschaft zwischen Regie, Kamera und den Menschen vor der Kamera kommt. Im Anschluss an die Arbeit mit Peter Nestler bei seinem Film „Pachamama – Unsere Erde“ (1995) habe ich versucht diesen Prozess (samt einer zwischenzeitlichen Friktion) für mich zu klären. Siehe Anmerkungen zu einer Kamerarbeit mit Peter Nestler.

Was sind in dem langen Zeitraum, den Sie als Kameramann und Autor überblicken, aus Ihrer Sicht die bedeutendsten Veränderungen in Ihrem dokumentarischen Filmschaffen?

Der für mich größte Sprung nach vorne war in den 90-ern und war zugleich ein halber Salto rückwärts: von Hi 8 ("Lettischer Sommer"), 16 mm ("Ofen aus"), Beta SP ("Ein Schloss für alle") – Seitenverhältnis 4:3, Mono-Ton – zu 35 mm, 1:1,85, Stereoton ("B 224"). Inhaltlich und formal vom Reisefilm (Riga/1992), der Langzeitbeobachtung (Rheinhausen/1995), von Protagonisten und einer Narration zur Bewegtbild- und Toncollage (entlang einer Bundesstraße) und einem Zitat von "L’arroseur arrosé". Und erstmals, auch im Kopf, auf die breite Kinoleinwand.

Den Sprung zur non-linearen Narration habe ich mit "Barstow, California" (4K, 2018) gemacht, bin damit zu Dialog und Off-Ton zurückgekehrt, aber dem "ambient sound" treu geblieben: "live & landscape". Die Lebensgeschichte des Lyrikers Spoon Jackson wird verwoben mit dem Ort seiner Herkunft, der Kleinstadt Barstow und der Mojave Wüste.

Bei der Premiere des Films 2018 in Nyon habe ich mir weitere Filme im Internationalen Wettbewerb angesehen – alle hatten Musik. Antwort von Gisela Tuchtenhagen, einer Pionierin des direct cinema in Deutschland, auf meine Frage, ob "B 224" nicht auch eine Filmmusik braucht: "Das ist doch barbarisch." Das war 1999. Heute ist diese "Barbarei" längst Mainstream im Dokumentarfilm, wie auch schon im Dokumentar- und Kulturfilm vor 1961. Aus Sicht eines mit der poetischen Bildsprache Nestlers und der fly on the wall-Methode Wildenhahns sozialisierten Dokumentaristen ist die Emotionalisierung durch Musik (wie im Spielfilm) symptomatisch für die Veränderung im Dokumentarfilm.

"Man muss die Kommunikation jeden Tag neu finden."
Die Bildgestalterin Sophie Maintigneux im Gespräch

Ihre Filmografie zeichnet sich durch die teilweise jahrzehntelange Zusammenarbeit mit zahlreichen Regisseur*innen aus. Auch mit Doris Metz hatten Sie schon "Ich werde reich und glücklich" (2002) und "Schattenväter" (2005) realisiert. Was ist das künstlerisch spannende oder herausfordernde an solch langjährigen Kollaborationen?

Vor allem beim Dokumentarfilm ist wirklich jeder Film anders. Aber eine jahrelange Zusammenarbeit bedeutet schon: wir werden gemeinsam alt. Das hilft, immer besser zu verstehen, was der andere Mensch sucht und wie.

Wie lässt sich der Prozess beschreiben, die Ideen eines anderen Menschen (Regie) in Sehbares zu verwandeln?

Die erste Annäherung an das Thema des Films geschieht durch Worte (ich lese das Drehbuch oder Treatment). Der zweite Schritt beschreibt sich ebenfalls über Worte, wenn nämlich die Diskussion mit der Regie beginnt. Das heißt, am Anfang stehen nur Wörter. Der Moment, in dem das Sehbare hinzukommt, ist durch die Protagonist*innen und die Drehorte gegeben. Dann wird es plastisch – durch Gesichter, Körper, Orte.

Worauf kommt es für Sie in der Kommunikation mit der Regie dabei für Sie besonders an?

Es gibt kein Rezept – nur Geduld.

Gibt es einen Punkt, an dem Ihnen klar ist – jetzt funktioniert es?

Nein – und zum Glück. Jeder Drehtag bringt eine neue Situation. Dienstag läuft vielleicht alles prima und problemlos und am Mittwoch gibt es Stress und die Zusammenarbeit funktioniert schlechter. Man muss die Kommunikation wirklich jeden Tag neu finden.

Lassen Sie das Material nach dem Dreh komplett frei, oder sind Sie auch regelmäßig im Schnitt noch involviert? 

1. Ja. 2. Nein.
Ein Film entsteht im Schneideraum. Meine Aufgabe ist, genug Material zu realisieren, damit der Film gut entstehen kann. Ich bekomme zwar von der Regie den ersten Feinschnitt zu sehen und gebe meine Meinung dazu – aber mehr bin ich nicht involviert.

Welche Rolle spielt dabei der Aspekt des Vertrauens, ‚Ihr’ Material zur weiteren Verarbeitung zu überlassen?

Leider habe ich auch schlechte Erfahrungen gemacht, weil manchmal Versprechen nicht gehalten werden (Beispiel: Arbeitszooms, die nicht verwendet werden sollten und dann doch in der finalen Version landen.) Aber ich glaube, dass wir als Bildgestalter*innen damit klarkommen müssen.

„Wir wollten auch in der Kameraarbeit den respektvollen Umgang mit der nicht-menschlichen belebten Welt zeigen.“
Die Regisseurin Mirjam Leuze im Gespräch.

»The Whale and the Raven« ist ein bildgewaltiger Dokumentarfilm über ein einzigartiges Biotop für Wale und die Frage, welche Rechte Menschen haben, tief in die Natur einzugreifen. Was waren die besonderen visuellen Anforderungen an einen „Naturfilm“ wie diesen?

Es war von vorne herein klar, dass dies kein Hochglanz-BBC-Tier-Erklärfilm werden sollte, sondern ein Dokumentarfilm, der mit viel Zeit das Verhältnis von Menschen, Walen und dem Neuankömmling „Industrie“ nachzeichnen wollte. Der Grund dafür ist meine Ausbildung als Ethnologin und Autorenfilmerin, die geprägt ist von der ethnologischen Methode der teilnehmenden Beobachtung und der Orientierung am aktuellen Stand der Wissenschaft, in der mehr und mehr der Fokus auf nicht-menschlichen Lebenswelten liegt. Die Schlagworte sind hier: Posthumanities und Non-human-turn.

Aber natürlich hat die Visualität auch etwas mit dem Produktionsbudget zu tun. In einem insgesamt schwierigen Setting der Drehbedingungen war klar, dass wir uns die Drohnen-, Unterwasserkamera und Hochglanz-Naturaufnahmen der kanadischen Kameracrews nur für eine begrenzte Drehzeit leisten konnten und dass der Schwerpunkt der teilnehmenden, beobachtenden Kameraarbeit bei mir als drehender Regisseurin liegen würde. Ich war mit meiner Sony FS 5 insgesamt über einen Zeitraum von zwei Jahren über eine Dauer von 10 Monaten vor Ort. Insgesamt sind so 250 Stunden Footage entstanden – von allen Kamerateams zusammen.

Welchen Stellenwert hatte, wie umfangreich war daher innerhalb der Planungsvorbereitung die Visualität des Films?

Die Visualität des Films zu denken und zu beschreiben für mich als Regisseurin war sehr wichtig. Das visuelle Konzept sah vor, von drei visuellen und akustischen Ebenen her zu erzählen. Unterwasser (Wal-Perspektive), aus der Luft (Raben-Perspektive) und von Land (Perspektive der Menschen), wobei die Landperspektive zwischen den Special-Nature-Kameraleuten und meiner Kamera, die sich auf die Beobachtung von Menschen konzentrieren sollte, aufgeteilt wurde. Da ich die längste Zeit vor Ort war wurde ich dann notgedrungen aber auch zu derjenigen die viele Walaufnahmen machen musste, einfach weil kein anderes Team in den entscheidenden Momenten vor Ort war und weil man mit Walen keine Drehtermine vereinbaren kann..

Da ich mit vier verschiedenen Kamerateams aus Kanada/BC zusammen gearbeitet habe, war es vorab nicht möglich sich persönlich zu treffen,, sondern alles musste per E-Mail und Skype vereinbart werden.

Kameraarbeit und die Visualität eines Films fängt für mich zu allererst im Kopf, und mit einer Haltung an. Es war mir deshalb besonders wichtig den Teams zu vermitteln, dass wir keine „Jagd“ auf Tiere machen, dass wir nicht „schießen“, sondern in unserer Haltung mit der Kamera achtsam und respektvoll sind, so wie das die Walforscher eben auch sind. So kommt es auch, dass in unserem Film die Wale immer relativ weit weg sind, bis auf die letzte Szene. Das ist von vielen Fernsehredaktionen bei Anfragen für die Berichterstattung über den Film ein Kritikpunkt gewesen. Es kamen Fragen wie: Wo sind die sensationellen Nahaufnahmen? Aber genau dem wollten wir uns widersetzen. Die Sehgewohnheiten von Zuschauern brechen und auch in der Kameraarbeit mein Anliegen nach einem respektvollen Umgang mit der nicht-menschlichen belebten Welt zeigen.

Mit wie vielen Kameras haben Sie schließlich gearbeitet und mit welchen?

Insgesamt mit vier Teams. Drohne (Mike Dinsmore, DJI Inspire Pro with Zenmuse X5 camera/gimbal), Unterwasser (Tavish Campbell, Panasonic 4K), Nature (Simon Schneider, AMIRA & Athan Merrick, SONY FS 7), meiner Kamera der Sony FS7, sowie zwei Go Pros.

Mit dem Kanadier Mike Dinsmore haben Sie mit einem Drohnen-DoP zusammengearbeitet, der auch selbst als Regisseur arbeitet – wie haben Sie gemeinsam das Konzept für die Drohnen-Kamera gestaltet?

Das ging für die Planung auch alles per E-Mail und Skype. Es war klar, dass die Drohne den POV (Point of View) eines Raben darstellen sollte. Mike hat Testdrehs gemacht und uns das Material dann per Vimeo zugeschickt. Wir haben angefangen mit sehr wilden Bewegungen, merkten dann aber schnell, dass es einem da beim Zuschauen schlecht wird und dass das nicht funktioniert. Wir haben uns dann darauf geeinigt, dass die Drohne mit der üblichen Stabilisatorfunktion fliegt, aber nur Vorwärtsflüge machen kann, wie ein Rabe, der auch nicht rückwärts oder seitwärts fliegen würde. Letztendlich haben wir den endgültigen Stil dann vor Ort auf Gil Island festgelegt. Insgesamt hatten wir 10 Drehtage zusammen.

Die Editorin Sandra Brandl hatte in der Montage mit vielen unterschiedlichen Bildquellen zu operieren. Wie sehen Sie den Zusammenhang zwischen Bildgestaltung und Montage? Liefen erste Montageproben und Dreh parallel?

Es gab eine Montageprobe nach den ersten drei Drehmonaten. Der richtige Montageprozess ging jedoch erst los als alles abgedreht war. In der Montage zeigte sich dann, dass einige meiner visuellen Ideen, das Kreieren einer leicht atmenden, floatenden Kamera, die den nicht-menschlichen Blick vom Wasser aus auf die Welt der Menschen darstellen sollte, nicht funktionierte. Das war für mich als Regisseurin hart zu akzeptieren und das sehe ich gewissermaßen auch als ein Scheitern meiner visuellen Vorstellung an. Aber das Verwerfen gehört eben genauso zum kreativen Prozess dazu.